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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Geschirr und dem einen Teppich, der gekauft und nicht aus Lumpen gemacht worden war. In Tante Dodies guter Stube gab es nur einen zu hart gepolsterten Sessel und einen Zeitungsständer voll mit alten Sonntagsschulschriften. Tante Dodie lebte von ihren Kühen. Ihr Land lohnte sich nicht für den Ackerbau. Jeden Morgen, nachdem sie mit dem Melken und Zentrifugieren fertig war, lud sie die Kannen auf die Ladefläche ihres Kleinlasters und fuhr sieben Meilen weit zur Molkerei. Sie lebte in ständiger Furcht vor dem Milchkontrolleur, der herumfuhr und Kühe für tuberkulös erklärte, und zwar, so gab sie uns zu verstehen, aus reiner Bosheit, um kleine Farmer kaputt zu machen. Er stand im Dienst der Großindustrie, sagte Tante Dodie.
    Die Tragödie in ihrem Leben war, dass sie sitzengelassen worden war. »Wusstet ihr«, fragte sie, »dass ich sitzengelassen worden bin?« Meine Mutter hatte gesagt, dass wir das nie erwähnen durften, und da stand Tante Dodie in ihrer eigenen Küche, wusch das Geschirr vom Mittag ab, wobei ich es abtrocknete und meine Schwester es wegstellte (meine Mutter musste sich ausruhen), und sagte stolz »sitzengelassen«, wie jemand sagen würde: »Wusstet ihr, dass ich Kinderlähmung hatte?« oder irgend solch eine schlimme, bedeutende Krankheit.
    »Ich hatte meine Hochzeitstorte gebacken«, sagte sie. »Ich hatte mein Hochzeitskleid an.«
    »War es aus Satin?«
    »Nein, es war aus schöner dunkelroter Merinowolle, denn es war eine Hochzeit im Spätherbst. Wir hatten den Pfarrer da. Alles war vorbereitet. Mein Vater rannte immer wieder auf die Straße und hielt nach ihm Ausschau. Es wurde dunkel, und ich sagte, Zeit, rauszugehen und die Kühe zu melken! Ich hab mein Kleid ausgezogen und hab’s nie wieder angezogen. Ich hab’s verschenkt. Viele Mädchen hätten geweint, aber ich, ich hab gelacht.«
    Meine Mutter erzählte dieselbe Geschichte und sagte: »Als ich zwei Jahre danach zu Hause war und bei ihr gewohnt habe, bin ich nachts immer aufgewacht und habe sie weinen hören. Jede Nacht.«
    Ich war schon in der Kirche,
    Stand vor dem Traualtar,
    Stand vor dem Traualtar,
    Doch rat mal, wer nicht kam,
    Das war der Bräutigam,
    Das war der Bräutigam,
    Ließ elend mich im Stich.
    Tante Dodie sang uns das vor, während sie an ihrem runden Tisch mit der gescheuerten Wachstuchdecke das Geschirr abwusch. Ihre Küche war groß wie ein Haus, mit einer Hintertür und einer Vordertür; ständig wehte ein Lüftchen. Sie hatte eine selbstgebaute Eiskiste, wie ich sie noch nie gesehen hatte, mit einem großen Eisklotz darin, den sie in einem Bollerwagen aus dem Eishaus holte. Das Eishaus selbst war bemerkenswert, ein überdachter Unterstand, in dem das im Winter aus dem See gesägte Eis im Sommer in Sägemehl lagerte.
    »War’s natürlich nicht«, sagte sie, »in meinem Fall war’s nicht die Kirche.«

    Hinter den Feldern von Tante Dodie lebte auf der nächsten Farm der Bruder meiner Mutter, Onkel James, mit seiner Frau, Tante Lena, und acht Kindern. Das war das Haus, in dem meine Mutter aufgewachsen war. Es war ein größeres Haus mit mehr Möbeln, aber trotzdem draußen nicht angestrichen, dunkelgrau. Die Möbel bestanden hauptsächlich aus hohen, hölzernen Bettgestellen mit Federbetten und dunklen, geschnitzten Kopfbrettern. Unter den Betten standen Nachttöpfe, die nicht jeden Tag geleert wurden. Wir gingen dorthin zu Besuch, aber Tante Dodie kam nicht mit. Sie und Tante Lena sprachen nicht miteinander. Aber Tante Lena sprach mit niemandem viel. Sie war ein sechzehn Jahre altes Mädchen aus der tiefsten Provinz gewesen, sagten meine Mutter und Tante Dodie (was die Frage aufwarf, was war dann das hier?), als Onkel James sie heiratete. Zu jener Zeit muss sie seit zehn oder zwölf Jahren verheiratet gewesen sein. Sie war groß und gerade, hinten und vorne flach wie ein Brett – obwohl sie noch vor Weihnachten ihr neuntes Kind austragen sollte –, mit dunklen Sommersprossen und großen, dunklen, etwas entzündeten Augen wie die Augen von Tieren. Alle Kinder hatten sie geerbt statt der sanften blauen von Onkel James.
    »Als deine Mutter starb«, sagte Tante Dodie, »ach, ich kann sie noch hören. Fass das Handtuch nicht an! Nimm dein eigenes Handtuch! Krebs, sie dachte, den kann man sich einfangen wie Masern. So beschränkt war sie.«
    »Ich kann ihr nicht verzeihen.«
    »Und sie ließ keins von den Kindern an sich ran. Ich musste selbst rübergehen, um deine Mutter immer zu waschen. Ich hab alles

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