Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
Ich glaube nicht, dass die Dinge dazu da sind, verarbeitet zu werden .
    Menschen sterben; sie leiden, sie sterben. Ihre Mutter war an einer gewöhnlichen Lungenentzündung gestorben, nach all dem Irrsinn. Krankheiten und Unfälle. Sie müssten respektiert und nicht erklärt werden. Worte waren alle schmählich. Sie müssten vor Scham zerbröckeln.
    Die Worte des Propheten, die am Nachmittag auf der Gedenkfeier verlesen worden waren, hatten Eileen empört. Welch ein Betrug, dachte sie, welch eine Unverschämtheit. Unabsichtlich – dargereicht als die moderne Entsprechung von Frömmigkeit –, aber das war keine Entschuldigung. Jetzt, in ihren betrunkenen Gedankengängen, erkannte sie, dass keine Worte besser gepasst hätten. In der sicheren und gewissen Hoffnung  … Kein Betrug in den Worten, aber welch ein Betrug, sie jetzt zu sagen. Schweigen war das einzig Mögliche.
    Früher einmal hatten sie und June mehr Achtung verdient als jetzt. Früher einmal waren sie weniger abstoßend gewesen. Stimmte das nicht? Auch Ewart, auch die Nachbarn, auch die Unitarier. Früher einmal war darauf Verlass, dass wir alle wussten, was wir meinten, aber jetzt nicht mehr, obwohl wir es alle gut meinen. June ist in der Selbstfindungsgruppe gewesen, sie hat Yoga gelernt, sie hat es mit Transzendentaler Meditation probiert; sie ist nackt mit anderen in einem warmen Swimmingpool auf einer teuren Insel gewesen. Eileen für ihr Teil, sie hat viel gelesen und weiß, wie man an allen Sorten von Gemeinheit Anstoß nimmt. Eigentlich müsste es ihnen besser gehen als ihrer Mutter. Aber etwas stimmt trotzdem nicht. Das Einzige, auf das wir hoffen können, ist, dass wir hin und wieder in die Realität zurückfallen, denkt Eileen und nickt für ein paar Sekunden ein, um erschreckt aufzuwachen und das Glas zu umklammern.
    Beinahe verschüttet. Über den Teppich, die Bettdecke. Sie trank alles aus, was noch in dem Glas war, stellte es auf den Nachttisch und schlief fast sofort ein.
    Sie erwachte immer noch betrunken, ohne eine Ahnung von der Uhrzeit. Im Haus war es still. Sie stand auf mit dem Gedanken, sich für die Nacht umziehen zu müssen. Erst einmal ging sie ins Badezimmer, in ihrem dunkelblauen Kaftan, und dann in die Küche, um auf die elektrische Uhr zu schauen. In der Küche brannte Licht. Es war erst Viertel nach elf.
    Sie trank ein volles Glas kaltes Wasser aus, denn sie wusste aus Erfahrung, es würde ihre Kopfschmerzen am nächsten Morgen lindern oder, wenn sie Glück hatte, ganz verhindern. Sie ging aus der Seitentür hinaus zur Garage, in der Hoffnung, dort vom Regen geschützt zu stehen und frische Luft zu schöpfen. Das Tor stand auf. Schwankend tastete sie sich an der Wand entlang vorbei an dem zusammengerollten Gartenschlauch und den aufgehängten Geräten. Sie hörte jemanden kommen, war aber unbesorgt. Sie war zu betrunken. Ihr war egal, wer es war oder was man von ihr dachte, wenn man sie dort fand.
    Es war Ewart. Mit einer Gießkanne.
    »June?«, fragte er. »June? Ach, Eileen. Ich habe sowieso nicht kapiert, wie es June sein kann. Sie hat zwei Schlaftabletten genommen.«
    »Was machst du da?«, fragte Eileen. Ihr Tonfall war betrunken, herausfordernd, aber nicht wirklich auf Streit erpicht.
    »Ich gieße.«
    »Es regnet. Ewart, du bist ein Idiot.«
    »Es regnet nicht mehr.«
    »Es hat aber geregnet. Ich habe es gesehen, als wir im Wohnzimmer waren.«
    »Ich musste die neuen Sträucher gießen. Sie brauchen am Anfang unglaublich viel Wasser. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass der Regen reicht. Schon gar nicht am ersten Tag.«
    Er stellte die Gießkanne weg. Er kam um die Autos herum auf sie zu.
    »Eileen. Du gehst besser rein. Du hast viel getrunken. June hat bei dir reingeschaut. Sie sagte, du warst völlig weggetreten.«
    Er war auch betrunken. Sie merkte es nicht an seiner Stimme oder an der Art, wie er sich bewegte, sondern an einer gewissen Schwere, einer Festigkeit und Hartnäckigkeit, mit der er vor ihr stand.
    »Eileen. Du hast geweint. Das ist sehr lieb von dir.«
    Nicht um Douglas, sie hatte nicht um Douglas geweint.
    »Weißt du, Eileen, es war eine große Hilfe für June, dich hierzuhaben.«
    »Ich habe nichts getan. Ich wünschte, ich könnte etwas tun.«
    »Dich einfach hierzuhaben. June schätzt dich sehr.«
    »Ach, ja?«, fragte Eileen, nicht ungläubig. Wie Ewart die Höflichkeit zu Gebote stand, sogar, wenn sie beide betrunken waren!
    »Sie bringt es manchmal nicht fertig, aus sich herauszugehen.

Weitere Kostenlose Bücher