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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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mitangesehen.«
    »Ich kann ihr nie verzeihen.«
    Tante Lena war die ganze Zeit über starr vor dem, was ich jetzt als panische Angst erkenne. Sie erlaubte ihren Kindern nicht, im See zu baden, aus Angst, sie könnten ertrinken, sie erlaubte ihnen im Winter nicht, Schlitten zu fahren, aus Angst, sie könnten vom Schlitten fallen und sich den Hals brechen, sie erlaubte ihnen nicht, Schlittschuhlaufen zu lernen, aus Angst, sie könnten sich die Beine brechen und fürs Leben verkrüppelt sein. Sie schlug sie ständig, aus Angst, sie könnten zu Faulenzern oder Lügnern oder Tollpatschen heranwachsen, die vieles kaputt machten. Faul waren sie nicht, aber kaputt machten sie vieles; andauernd sausten sie los und grapschten nach allem; und sie waren natürlich alle Lügner, sogar die kleinsten, brillante, instinktive Lügner, die sogar logen, wenn es nicht erforderlich war, einfach zur Übung und vielleicht aus Spaß daran. Ständig verrieten und verbargen sie, schmiedeten und brachen Bündnisse; sie hatten die raffiniertesten und rücksichtslosesten politischen Instinkte. Sie heulten, wenn sie geschlagen wurden. Stolz war ein Luxus, den sie schon lange nicht mehr kannten oder nie gekannt hatten. Wenn du vor Tante Lena nicht heultest, wann hörte sie dann je auf? Ihre Arme waren so lang und stark wie die eines Mannes, ihr Gesicht starr von ferner, unerreichbarer Wut. Aber schon fünf Minuten oder drei Minuten hinterher hatten ihre Kinder alles vergessen. Bei mir konnte solch eine Demütigung wochenlang nachwirken oder lebenslang.
    Onkel James hatte den irischen Singsang beibehalten, den meine Mutter ganz und Tante Dodie halb verloren hatten. Seine Stimme war entzückend, wenn er die Namen der Kinder nannte. Mar-ie, Ron-ald, Ru-thie. Er sagte ihre Namen so zärtlich, tröstend und vorwurfsvoll, als seien die Namen oder die Kinder selbst Streiche, die man ihm spielte. Aber er bewahrte sie nie vor Schlägen, protestierte nie dagegen. Man hätte meinen können, all das hatte nichts mit ihm zu tun. Man hätte meinen können, Tante Lena hatte nichts mit ihm zu tun.
    Das jüngste Kind schlief im Bett der Eltern, bis ein neues Baby es ablöste.
    »Früher kam er mich immer besuchen«, sagte Tante Dodie. »Was haben wir zusammen gelacht! Er brachte immer zwei, drei von den Kindern mit, aber dann nicht mehr. Ich weiß auch, warum. Sie hätten ihn verpetzt. Dann ist er selber auch nicht mehr gekommen. Sie führt das Regiment. Aber er rächt sich an ihr, und ob!«

    Tante Dodie bezog keine Tageszeitung, nur die wöchentliche, die in der Stadt erschien, in der sie uns abgeholt hatte.
    »Hier steht was über Allen Durrand.«
    »Allen Durrand?«, fragte meine Mutter unsicher.
    »Ach, der ist jetzt ein großer Holstein-Mann. Er hat eine West geheiratet.«
    »Was steht denn da?«
    »Was von der Konservativen Vereinigung. Ich wette, er will nominiert werden. Da wette ich.«
    Sie saß im Schaukelstuhl, hatte die Stiefel ausgezogen und lachte. Meine Mutter saß an einen Verandapfosten gelehnt. Beide schnippelten Wachsbohnen fürs Einwecken.
    »Ich dachte gerade daran zurück, wie wir ihm die Limonade gegeben haben«, sagte Tante Dodie und drehte sich zu mir um. »Damals war er bloß ein frankokanadischer Junge, der hier im Sommer ein paar Wochen lang gearbeitet hat.«
    »Nur sein Name war französisch«, sagte meine Mutter. »Er hat ihn nicht mal französisch ausgesprochen.«
    »Davon ist jetzt nichts mehr zu merken. Er hat sogar die Religion gewechselt, geht jetzt in die St. John’s-Kirche.«
    »Er war immer intelligent.«
    »Da kannst du drauf wetten. Ha, intelligent! Aber wir haben ihn mit der Limonade reingelegt.
    Stell dir den allerheißesten Tag im Sommer vor. Deiner Mutter und mir machte er nicht so viel aus, wir konnten im Haus bleiben. Aber Allen musste auf dem Heuboden sein. Es war Heuernte, musst du wissen. Mein Vater brachte das Heu ein, und Allen verteilte es. Ich wette, James hat auch dabei geholfen.«
    »James lud es auf«, sagte meine Mutter. »Dein Vater verstaute es und fuhr den Wagen.«
    »Und Allen hatten sie auf den Heuboden gesteckt. Du machst dir keine Vorstellung, wie ein Heuboden an so einem Tag ist. Die Hölle auf Erden. Also dachten wir, es wäre eine gute Idee, ihm etwas Limonade zu bringen … Nein, ich greife voraus. Ich wollte erst von der Latzhose erzählen.
    Allen hatte mir diese Latzhose zum Flicken gebracht, als die Männer sich zum Mittagessen hinsetzten. Er selbst hatte eine wollene alte Anzughose an und

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