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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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ebenso sehr, ich will auf keinen Fall zurück.«
    »Mögen Sie immer schöne Aussichten?«, fragte Eileen.
    »Immer schöne Aussichten?«, wiederholte er und zeigte durch das Neigen des Kopfes, die toleranten Augenbrauen, dass er damit rechnete, umgarnt zu werden.
    »Mal angenommen, Sie haben schlechte Laune, Sie fühlen sich sehr niedergeschlagen, und Sie stehen auf, und hier vor Ihnen ist diese herrliche Aussicht. Die ganze Zeit über, Sie können ihr nicht entkommen. Haben Sie nicht manchmal das Gefühl, ihr nicht gewachsen zu sein?«
    »Ihr nicht gewachsen?«
    »Ein schlechtes Gewissen«, sagte Eileen hartnäckig, obwohl es ihr bereits leidtat. »Weil Sie nicht besserer Laune sind. Weil Sie … die Aussicht gerade nicht wert sind?« Sie trank einen großen Schluck und wünschte sich natürlich, sie hätte nie davon angefangen.
    »Aber sobald ich die schöne Aussicht sehe«, sagte der Mann triumphierend, »kann ich nicht mehr schlechter Laune sein. Diese Aussicht tut mehr für mich als ein paar Drinks. Mehr als das Zeug, das die da unten haben. Außerdem glaube ich nicht an schlechte Laune. Das Leben ist zu kurz.«
    Bei diesen Worten fiel ihm ein, dass sie eigentlich nicht auf einer Party waren.
    »Das Leben ist zu kurz. Ohne Sinn und Verstand, die Dinge, die so passieren. Oder? Ihre Schwester ist phantastisch. Ewart auch.«
    Eileen ging den Flur entlang zum Gästezimmer, in der Hand einen neuen, starken Drink. Sie kam an der Tür des Zimmers vorbei, in dem die kleineren Kinder spielten. Die Kinder von Freunden, die mit Junes kleinen adoptierten Töchtern spielten. Sie spielten Quartett. Eileen blieb stehen und schaute ihnen zu. Irgendwie schüchterten die indianischen Kinder sie ein, sie fühlte sich vor ihnen auf dem Prüfstand. Natürlich geschah das, wenn June dabei war; sie spürte, wie June lauschte, aufpasste – nahezu vibrierend vor Eifer, Fehler in ihrer Einstellung zu entdecken. Wer würde jetzt glauben, dass auch June, ebenso wie Eileen, zu Hause oft in dem Pidginenglisch-Singsang geredet hatte, abgelauscht dem chinesischen Ehepaar in dem Becker-Street-Grünkramladen? Eileen betrachtete die glatten, braunen Gesichter der indianischen Kinder. Was waren sie – Junes Orden, Trophäen? Sie vermochte die Kinder nicht zu sehen, nur June.
    Sie schloss die Tür des Gästezimmers, legte sich im Dunkeln aufs Bett. Sie schlug die Beine übereinander, stopfte sich das Kissen hinter den Kopf und hielt immer noch das Glas in der Hand, das auf ihrem Bauch ruhte. Sie war an dem Punkt angelangt, zu dem sie in Junes Haus immer gelangte. Douglas änderte nichts daran, der Tod änderte nichts daran. Sie wurde von einer Lähmung überkommen, konnte sich nicht behaupten. In diesem Haus machten ihr Leben, ihre Möglichkeiten (wenn sie denn welche hatte), sie selbst keinen günstigen oder gar stimmigen Eindruck. Es musste zugegeben werden, dass sie aufs Geratewohl lebte, sie hatte zu viel Zeit vergeudet, sie tat nur weniges gut. Egal, wie all das aussah, wenn sie fort von hier war, wenn sie es in komische Geschichten für ihre Freunde verwandelte. Noch dazu hatte sie nicht helfen können.
    Im Flugzeug hatte sie sich vorgestellt, dass sie Plätzchen backen würde. Als wenn das in Junes Küche möglich wäre.
    Die Nachricht, dass ihr Vater tot war, im Krieg gefallen, war aus irgendeinem Grund über das Telefon gekommen, um zehn oder elf Uhr abends. Ihre Mutter hatte Plätzchen gebacken und Tee gekocht und Eileen geweckt, um mit ihr zu teilen. June nicht, die war noch zu klein. Sie gönnten sich Marmelade. Eileen war gierig, aber ängstlich. Ihre Mutter, die die meiste Zeit über eine gefährliche Person war, voller rätselhafter Kränkungen, unsagbarer Beschwerden, schien ihre normale Haltung aufgegeben zu haben, neutral geworden zu sein, anspruchslos, ja sogar schüchtern. Sie sagte ihr nichts von der Nachricht. (Am nächsten Morgen weckte sie beide mit langem weißem Gesicht, einem unwillkommenen Kuss und vorbereiteter Stimme. Daddy ist tot .) Jahre später hatte Eileen versucht, mit June über das nächtliche Plätzchenfest zu reden, über die Verwandlung ihrer Mutter in eine zarte und stille Person, in eine beinahe, beinahe – damals beider größte Hoffnung – normale Frau. June sagte, sie hätte das alles verarbeitet.
    »Schon vor Jahren, und auch in Gestaltpsychologie. Hauptsächlich in Gestaltpsychologie. Ich habe alles verarbeitet und bin damit fertig.«
    Ich habe nichts verarbeitet, dachte Eileen. Und weiter:

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