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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Firlefanz?«, fragte Tante Dodie und wies in die Runde.
    Meine Schwester, die gerade lesen lernte, versuchte die Inschriften zu entziffern.
    Bis der Tag anbricht
    Er ist nicht tot, er ruht
    In pacem
    »Was ist pacem ?«
    »Latein«, sagte meine Mutter lobend.
    »Viele Leute stellen diese pompösen Steine auf, und es ist alles nur Schau, sie zahlen immer noch daran ab. Einige von denen versuchen immer noch, die Grabstelle abzuzahlen, und haben mit dem Stein noch gar nicht angefangen. Schaut euch zum Beispiel mal den an.« Tante Dodie zeigte auf einen großen Würfel aus dunkelblauem Granit, weiß gesprenkelt wie ein Emaillekochtopf, der auf einer Ecke stand.
    »Wie modern«, sagte meine Mutter geistesabwesend.
    »Das ist der von Dave McColl. Schaut euch an, wie groß der ist. Und ich weiß ganz genau, dass sie seiner Witwe gesagt haben, wenn sie nicht bald was für die Grabstelle anzahlt, werden sie ihn ausgraben und auf die Landstraße schmeißen.«
    »Ist das christlich?«, fragte meine Mutter.
    »Manche Leute verdienen nichts Christliches.«
    Ich spürte, wie etwas von meiner Taille runterrutschte, und merkte, dass das Gummiband von meinem Schlüpfer gerissen war. Ich hielt mir rechtzeitig die Hände an die Hüften – damals hatte ich keine Hüften, die irgendetwas aufhalten konnten – und sagte zu meiner Mutter in wütendem Flüsterton: »Ich brauche eine Sicherheitsnadel.«
    »Wozu brauchst du eine Sicherheitsnadel?«, fragte meine Mutter, mit normaler oder lauter als normaler Stimme. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie in solchen Momenten immer begriffsstutzig war.
    Ich konnte nicht antworten, starrte sie aber flehend und drohend an.
    »Ich wette, ihr Schlüpfer ist gerissen«, amüsierte sich Tante Dodie.
    »Stimmt das?«, fragte meine Mutter streng und senkte immer noch nicht die Stimme.
    »Ja.«
    »Na, dann zieh ihn aus«, sagte meine Mutter.
    »Aber nicht hier«, sagte Tante Dodie. »Da drüben ist die Damentoilette.«
    Hinter der Kirche, wie hinter einer Dorfschule, standen zwei hölzerne Klohäuschen.
    »Dann hätte ich doch nichts an«, sagte ich entsetzt zu meiner Mutter. Ich konnte mir nicht vorstellen, in einem blauen Taftkleid und ohne Höschen in die Kirche zu gehen. Aufzustehen, um die Choräle zu singen, mich hinzusetzen, und das ohne Höschen! Das glatte, kühle Holz der Kirchenbank ohne Höschen!
    Tante Dodie durchsuchte ihre Handtasche. »Ich wünschte, ich könnte dir eine geben, aber ich hab keine. Du lauf und zieh’s einfach aus und kein Mensch wird was merken. Zum Glück geht kein Wind.«
    Ich rührte mich nicht von der Stelle.
    »Na ja, ich habe eine Sicherheitsnadel«, sagte meine Mutter unsicher. »Aber ich kann sie nicht herausnehmen. Der Träger von meinem Unterrock ist heute Morgen beim Anziehen gerissen, und ich habe ihn mit einer Sicherheitsnadel befestigt. Aber die kann ich nicht rausnehmen.«
    Meine Mutter trug ein weiches graues Kleid, mit Blümchen gemustert, die aussahen wie aufgestickt, und einen dazu passenden grauen Unterrock, weil man durch den Kleiderstoff hindurchsehen konnte. Ihr Hut war altrosa, was zu der Farbe einiger der Blümchen passte. Ihre Handschuhe waren fast im selben Altrosa, und ihre Schuhe waren weiß, an den Zehen offen. Sie hatte diese ganze Ausstattung mitgebracht, wahrscheinlich extra zusammengestellt, um sie beim Kirchgang zu tragen. Vielleicht hatte sie sich einen sonnigen Morgen vorgestellt, an dem die Kirchenglocke läutete, geradeso, wie sie jetzt läutete. Sie musste das geplant und sich ausgemalt haben, geradeso, wie ich jetzt manchmal plane und mir ausmale, was ich auf einer Party tragen werde.
    »Ich kann sie nicht für dich rausnehmen, sonst guckt mein Unterrock vor.«
    »Die Leute gehen schon rein«, sagte Tante Dodie.
    »Geh auf die Toilette und zieh ihn aus. Wenn du das nicht willst, geh und setz dich ins Auto.«
    Ich machte mich auf den Weg zum Auto. Ich hatte es nicht mehr weit zur Friedhofspforte, da rief meine Mutter meinen Namen. Sie marschierte mir voraus zur Damentoilette, wo sie ohne ein Wort in den Ausschnitt ihres Kleides langte und die Sicherheitsnadel herausholte. Ich kehrte ihr den Rücken zu – sagte nicht danke, denn ich steckte zu tief in meinem eigenen Unglück und war zu überzeugt von meinen eigenen Rechten – und verklammerte das Gummiband meines Schlüpfers. Dann ging meine Mutter vor mir aus der Toilette hinaus und um die Kirche herum. Wir kamen zu spät, alle waren schon drin. Wir mussten warten,

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