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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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ein Arbeitshemd, muss ihn umgebracht haben, obwohl er das Hemd wahrscheinlich ausgezogen hat, als er in die Scheune kam. Aber er hat bestimmt die Latzhose anziehen wollen, weil sie nicht so warm ist, verstehst du, luftiger. Ich hab vergessen, was daran geflickt werden musste, irgendeine Kleinigkeit. Er muss in der alten Hose schlimm gelitten haben, dass er sich dazu überwunden hat, darum zu bitten, denn er war schrecklich schüchtern. Da war er … wie alt?«
    »Siebzehn«, sagte meine Mutter.
    »Und wir beide achtzehn. Das war das Jahr, bevor du zum Lehrerseminar weggegangen bist. Ja. Also ich habe seine Hose genommen und geflickt, war nur eine Kleinigkeit dran zu machen, während du das Mittagessen aufgetragen hast. Und so saß ich in der Ecke von der Küche an der Nähmaschine, als ich meine Eingebung hatte, richtig? Ich hab dich rübergerufen. Angeblich, damit du mir den Stoff gerade hältst. Aber eigentlich solltest du sehen, was ich mache. Und keine von uns beiden hat gefeixt, wir haben uns auch nicht zugezwinkert, oder?«
    »Nein.«
    »Denn meine Eingebung war, ihm den Hosenschlitz zuzunähen!
    Und dann, ein bisschen später am Nachmittag, als alle wieder bei der Arbeit waren, hatten wir den Einfall mit der Limonade. Wir machten zwei Eimervoll. Einen brachten wir raus zu den Männern, die auf dem Feld arbeiteten; wir riefen ihnen zu und stellten ihn unter einen Baum. Und den anderen brachten wir hoch auf den Heuboden und sagten, für dich. Wir hatten alle Zitronen genommen, die im Haus waren, trotzdem war die Limonade dünn. Ich erinnere mich, wir mussten Essig reintun. Aber er hat das gar nicht gemerkt. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie jemand gesehen, der solchen Durst hatte. Erst trank er schöpfkellenweise, dann hat er einfach den Eimer an den Mund gesetzt und ausgetrunken. Wir standen da und sahen zu. Wie haben wir’s geschafft, ernst zu bleiben?«
    »Keine Ahnung«, sagte meine Mutter.
    »Dann haben wir den Eimer genommen und sind ab ins Haus, und da haben wir zwei Sekunden gewartet, bevor wir uns zurückgeschlichen haben. Wir haben uns im Kornspeicher versteckt. Der war auch wie ein Ofen. Ich weiß nicht, wie wir das ausgehalten haben. Aber wir sind auf die Futtersäcke geklettert und haben uns jede einen Spalt oder ein Astloch zum Gucken gesucht. Wir wussten, in welche Ecke der Scheune die Männer immer pinkelten. Wenn sie oben waren, pinkelten sie auf die Schütte. Unten im Viehstall pinkelten sie wahrscheinlich in die Rinne. Und bald, sehr bald schlendert er in die Richtung. Lässt die Heugabel fallen und schlendert rüber. Greift dabei mit der Hand nach sich. Wie uns von der Hitze der Schweiß übers Gesicht lief, und wie wir uns das Lachen verkneifen mussten. So was von grausam! Anfangs war er ja ganz entspannt. Dann, denk ich mal, wird der Drang stärker; er schaut an sich runter und fragt sich, was los ist, und bald reißt und zerrt er in alle Richtungen, versucht alles, was er kann, um sich zu befreien. Aber ich hatte ihn gründlich zugenäht. Möchte mal wissen, wann ihm aufgegangen ist, was passiert war.«
    »Spätestens da, denke ich. Dumm war er nie.«
    »Nein, nie. Also muss er es sich zusammengereimt haben. Die Limonade und alles. Aber ich glaube, ihm ist nicht in den Sinn gekommen, dass wir oben im Kornspeicher versteckt waren. Oder hätte er sonst getan, was er als Nächstes tat?«
    »Bestimmt nicht«, sagte meine Mutter fest.
    »Na, ich weiß nicht. Ihm war vielleicht alles egal. Hm? Schließlich war ihm alles egal, er gab auf und hat die Latzhose runtergerissen und ließ ihn raus. Wir kriegten alles zu sehen.«
    »Er stand mit dem Rücken zu uns.«
    »Stand er nicht! Als er losspritzte, gab es nichts, was wir nicht gesehen haben. Er hat sich zur Seite gedreht.«
    »Daran kann ich mich nicht erinnern.«
    »Aber ich. Ich habe so was nicht so oft zu sehen bekommen, als dass ich mir leisten könnte, es zu vergessen.«
    »Dodie!«, sagte meine Mutter, als wollte sie zu spät eine Warnung aussprechen. (Noch etwas, was meine Mutter sehr oft sagte, war: »Ich werde mir keinen Schweinkram anhören.«)
    »Ach, du! Du bist ja auch nicht weggerannt. Oder? Hast mit dem Auge am Astloch geklebt!«
    Meine Mutter sah mich an, dann Tante Dodie, dann wieder mich und hatte dabei einen ungewöhnlichen Gesichtsausdruck: Hilflosigkeit. Ich will nicht sagen, dass sie lachte. Sie schaute nur drein, als gäbe es einen Punkt, an dem sie aufgeben könnte.

    Der Beginn ist sehr langsam, und oft können

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