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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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werden, und dass jener Schriftsteller unbedingt gelesen werden muss; um zu hören, wie sie verwerfen und rühmen und streiten und kichern und schockieren. Leute, sagte ich, aber ich meine Frauen, Frauen in mittleren Jahren wie ich, munter und nervös, darauf bedacht, intelligente Fragen zu stellen und sich nicht lächerlich zu machen; glatthaarige junge Mädchen, die sich vor Anbetung verzehren und hoffen, mit einem der Männer auf dem Podium Blicke zu tauschen. Mädchen und auch Frauen verlieben sich in solche Männer, sie bilden sich ein, dass ihnen Macht innewohnt.
    Die Ehefrauen der Männer auf dem Podium befinden sich nicht in diesem Publikum. Sie sind dabei, einzukaufen oder sauberzumachen oder einen Schluck zu trinken. Ihr Leben dreht sich um Essen und Schmutz und Häuser und Autos und Geld. Sie müssen daran denken, die Winterreifen aufziehen zu lassen und zur Bank zu gehen und die leeren Bierflaschen zurückzubringen, weil ihre Gatten solche geistvollen, begabten, solche unfähigen Männer sind, die umsorgt werden müssen um der Worte willen, die sie absondern werden. Die Frauen im Publikum sind mit Ingenieuren oder Ärzten oder Geschäftsleuten verheiratet. Ich kenne sie, sie sind meine Freundinnen. Einige von ihnen haben sich der Literatur allein zum Zeitvertreib zugewandt, das ist wahr, aber die meisten kommen verschämt, mit ungeheuren, vergänglichen Hoffnungen. Sie lassen sich die Verachtung der Männer auf dem Podium gefallen, als hätten sie sie verdient; halb glauben sie daran, dass sie sie verdienen, wegen ihrer Häuser, ihrer teuren Schuhe und ihrer Ehemänner, die Arthur Hailey lesen.
    Ich bin selbst mit einem Ingenieur verheiratet. Er heißt eigentlich Gabriel, aber er zieht den Namen Gabe vor. In diesem Land zieht er den Namen Gabe vor. Er ist in Rumänien geboren worden und hat dort bis zum Ende des Krieges gelebt, da war er sechzehn. Er kann kein Rumänisch mehr, er hat es vergessen. Wie kann man das vergessen, wie kann man die Sprache der Kindheit vergessen? Ich dachte immer, er täte nur so, als hätte er sie vergessen, weil die Dinge, die er gesehen und durchgemacht hatte, als er diese Sprache sprach, zu schrecklich waren, um sich daran zu erinnern. Aber er sagte mir, das stimmte nicht. Er sagte mir, dass seine Erfahrungen mit dem Krieg nicht so schlimm waren. Er beschrieb den Ferienjubel in der Schule, wenn die Luftschutzsirenen heulten. Ich glaubte ihm nicht so ganz. Ich wollte in ihm einen Sendboten aus schlechten Zeiten und fernen Ländern sehen. Dann dachte ich, womöglich war er überhaupt kein Rumäne, sondern ein Schwindler.
    Das war vor unserer Heirat, als er mich immer in der Wohnung in der Clark Road besuchte, in der ich mit meiner kleinen Tochter Clea wohnte. Natürlich auch Hugos Tochter, aber er hatte sie loslassen müssen. Hugo erhielt Stipendien, er machte Reisen, er heiratete wieder, und seine Frau bekam drei Kinder; er ließ sich scheiden und heiratete noch einmal, und seine nächste Frau, die seine Studentin gewesen war, bekam drei weitere Kinder, von denen das erste geboren wurde, als er noch mit seiner zweiten Frau zusammenlebte. Unter solchen Umständen kann ein Mann nicht an allem festhalten. Gabriel blieb manchmal über Nacht auf der ausziehbaren Couch, die ich in dieser winzigen, elenden Wohnung als Bett hatte; und ich betrachtete ihn, während er schlief, und dachte, eigentlich könnte er genauso gut ein Deutscher oder ein Russe sein oder sogar ein Kanadier, der eine Vergangenheit und einen Akzent vortäuscht, um sich interessant zu machen. Er war mir ein Rätsel. Lange nachdem er mein Liebhaber wurde und dann mein Ehemann, blieb er mir und bleibt mir ein Rätsel. Trotz all der Dinge, die ich von ihm weiß, der alltäglichen und körperlichen Dinge. Sein Gesicht hat lauter glatte Wölbungen, und seine Augen, die flach im Kopf sitzen, wölben sich auch unter den glatten rosa Lidern hervor. Die Falten, die er hat, haben sich auf dieser Glätte gebildet, auf dieser undurchdringlichen Oberfläche; sie sind ohne Bedeutung. Sein Körper ist schwer, ruhig. Er war früher ein guter, recht träge aussehender Schlittschuhläufer. Ich kann ihn nicht ohne ein vertrautes Gefühl des Versagens beschreiben. Ich kann ihn einfach nicht beschreiben. Hugo könnte ich, wenn jemand mich darum bäte, sehr genau beschreiben – Hugo, wie er vor achtzehn oder zwanzig Jahren war, mager und mit Bürstenschnitt, mit Knochen, die in seinem Körper und sogar in seinem Schädel so zufällig

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