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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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tatsächlich schlecht, zwei Mal kam er nach Hause und musste sich übergeben. Auch ich habe Jobs, die ich nicht ausstehen konnte, hingeschmissen. Im selben Sommer schmiss ich meinen Job hin, im Victoria Hospital Verbände zu falten, weil ich vor Langeweile verrückt wurde. Aber wenn ich Schriftstellerin wäre und alle meine diversen und abwechslungsreichen Tätigkeiten auflisten würde, ich glaube, ich würde Verbandfalterin nicht aufführen, ich würde das nicht ganz ehrlich finden.
    Danach fand Hugo einen Job, wo er Highschool-Examensarbeiten korrigieren musste. Warum führt er das nicht auf? Examensarbeitenkorrektor. Es machte ihm Spaß, Examensarbeiten zu korrigieren, mehr als auf Telefonmasten zu klettern und wahrscheinlich mehr als Bäume zu fällen oder Bier zu zapfen oder irgendeine von jenen anderen Tätigkeiten, falls er sie je ausübte; warum kann er das nicht aufführen? Examensarbeitenkorrektor .
    Auch ist er meines Wissens nie Vorarbeiter in einem Sägewerk gewesen. Tatsächlich hat er in dem Sommer, bevor ich ihn kennenlernte, im Sägewerk seines Onkels gearbeitet. Den ganzen Tag über beschickte er die Säge und wurde von dem richtigen Vorarbeiter beschimpft, der ihn nicht leiden konnte, weil sein Onkel der Chef war. Abends, wenn er nicht zu müde war, lief er eine halbe Meile weit zu einem kleinen Bach und spielte Blockflöte. Kriebelmücken piesackten ihn, aber davon ließ er sich nicht abhalten. Er konnte »Morgenstimmung« aus Peer Gynt spielen und einige elisabethanische Lieder, deren Namen ich vergessen habe. Bis auf einen: »Wolseys Wilde«. Ich lernte es auf dem Klavier, damit wir es im Duett spielen konnten. War das Kardinal Wolsey gewidmet, und was war eine Wilde, ein Tanz? Führ das auf, Hugo, Blockflötenspieler . Das wäre inzwischen ganz in Ordnung, ganz in Mode, soweit ich es beurteilen kann, stehen Blockflötenspiel und ähnlicher altertümlicher Zeitvertreib jetzt nicht in Ungnade, ganz im Gegenteil. Es ist sogar gut möglich, dass es angesagter ist als all dieses Bäumefällen und Bierzapfen. Schau dich an, Hugo, dein Image ist nicht nur gefälscht, sondern überholt. Du hättest sagen sollen, du hast ein Jahr lang in den Bergen von Uttar Pradesh meditiert; du hättest sagen sollen, du hast Dramakurse für autistische Kinder gegeben; du hättest dir den Kopf kahl rasieren, den Bart abnehmen und eine Mönchskutte anziehen sollen; du hättest den Mund halten sollen, Hugo.
    Als ich mit Clea schwanger war, wohnten wir in einem Haus in der Argyle Street in Vancouver. Es war im regnerischen Winter von außen ein derart trauriges, grau verputztes Haus, dass wir das Innere, sämtliche Räume der Wohnung, in lebhaften, unglücklich gewählten Farben anstrichen. Drei Wände des Schlafzimmers waren Wedgewood-blau, eine war magenta. Wir sagten, es sei ein Experiment, um zu sehen, ob Farben jemanden in den Wahnsinn treiben konnten. Das Badezimmer strahlte in sattem Orangegelb. »Es ist, als säße man mitten in einem Käse«, sagte Hugo, als wir fertig waren. »Das stimmt«, sagte ich. »Sehr gut ausgedrückt.« Das freute ihn, aber nicht so, als hätte er es hingeschrieben. Danach sagte er jedes Mal, wenn er jemandem das Badezimmer zeigte: »Siehst du die Farbe? Als säße man mitten in einem Käse.« Oder: »Als pinkelte man mitten in einem Käse.« Nicht, dass ich nicht dasselbe tat, auch ich merkte mir prägnante Formulierungen und wiederholte sie ständig. Vielleicht sagte ich das mit dem Pinkeln mitten in einem Käse. Wir hatten viele gemeinsame Ausdrücke. Die Hauswirtin nannten wir beide die grüne Hornisse, weil sie, als wir sie zum einzigen Mal zu Gesicht bekamen, ein giftgrünes Kostüm mit Pelzbesatz aus Rattenfell und einem Veilchensträußchen trug und eine Art giftiges Brummen von sich gab. Sie war über siebzig und führte eine Männerpension in der Innenstadt. Ihre Tochter Dotty nannten wir die Dirne des Hauses. Ich frage mich, warum wir das Wort Dirne wählten; das war und ist kein gebräuchliches Wort. Vermutlich hatte es einen rassigen, verworfenen Klang und stand in ironischem Gegensatz – Ironie war unsere Stärke – zu Dotty selbst.
    Sie lebte in einer Zweizimmerwohnung im Keller des Hauses. Sie sollte ihrer Mutter fünfundvierzig Dollar monatlich Miete zahlen, und sie erzählte mir, sie wolle versuchen, das Geld mit Babyhüten zu verdienen.
    »Ich kann nicht arbeiten gehen«, sagte sie, »wegen meiner Nerven. Mein letzter Mann, der ist mir sechs Monate lang im Haus

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