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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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zu Vettern von ihr, die eine Farm im Fraser Valley hatten. Ich sollte noch erwähnen, dass mein Vater, Cams und meiner, zu dieser Zeit schon tot war, er starb, als Cam sein Asthma hatte und seine Radioserien hörte. Sein Tod machte uns nicht viel aus, denn er arbeitete als Schaffner auf dem Prince George Express, wenn der in Squamish abfuhr, und er wohnte teilweise in Lillooet. Nichts änderte sich, Mutter arbeitete weiter bei Eaton’s wie immer, nahm die Fähre und dann den Bus; ich besorgte das Abendessen, sie schleppte sich im Winterdunkel den Hügel herauf.
    Cam haute von der Farm ab, er beklagte sich, die Vettern seien fromm und ständig hinter seiner Seele her. Mutter sah das völlig ein, schließlich hatte sie ihn zum Freidenker erzogen. Er reiste per Anhalter ostwärts. Von Zeit zu Zeit kam ein Brief. Mit der Bitte um Geld. Ihm wäre eine Stellung im Norden der Provinz Quebec angeboten worden, wenn er nur das Geld zusammenbekäme, um hinzufahren. Mutter schickte es. Er gab Nachricht, dass die Stellung geplatzt war, aber das Geld gab er nicht zurück. Er wollte mit zwei Freunden zusammen eine Putenfarm betreiben. Sie schickten uns Pläne, Kostenvoranschläge. Sie sollten im Auftrag der Purina Company arbeiten, es konnte also nichts schiefgehen. Die Puten ertranken in einer Überschwemmung, nachdem Mutter ihm Geld geschickt hatte und wir wider unsere bessere Einsicht auch. Dieser Junge braucht nur irgendwo hinzukommen, und die Gegend verwandelt sich in ein Katastrophengebiet, sagte Mutter. Liest man das in einem Buch, würde man’s nicht glauben, sagte sie. Es ist so schrecklich, dass es schon wieder komisch ist.
    Sie wusste Bescheid. Ich ging sie jeden Mittwochnachmittag – ihrem freien Tag – besuchen, schob den Kinderwagen mit Karen drin, dann später mit Tommy drin, während Karen nebenherlief, die Lonsdale hinauf und die King’s Road hinunter, und worüber redeten wir schließlich immer? Dieser Junge und ich, wir lassen uns scheiden, sagte sie. Ich werde ihn endgültig abschreiben. Was soll je aus ihm werden, wenn er nicht aufhört, sich auf mich zu verlassen, fragte sie. Ich hielt den Mund, mehr oder weniger. Sie kannte meine Meinung. Doch am Schluss sagte sie jedes Mal: »War aber schön, ihn im Haus zu haben. Vergnüglich. Dieser Junge konnte mich immer zum Lachen bringen.«
    Oder: »Er hat es nicht leicht gehabt, mit dem Asthma und ohne Vater. Er hat nie absichtlich irgendjemandem weh getan.«
    »Etwas Gutes hat er getan«, sagte sie, »das kann man wirklich eine gute Tat nennen. Für dieses Mädchen.«
    Womit die junge Frau gemeint war, die kam und uns erzählte, sie sei mit ihm verlobt gewesen, in Hamilton, Ontario, bis er ihr mitteilte, er konnte niemals heiraten, weil er gerade herausgefunden hatte, dass es in seiner Familie eine tödliche erbliche Nierenkrankheit gab. Er schrieb ihr das in einem Brief. Und sie war auf der Suche nach ihm, um ihm zu sagen, das störe sie nicht. Sie sah gar nicht schlecht aus. Und arbeitete bei Bell Telephone. Mutter sagte, es war eine Lüge aus Barmherzigkeit, um ihre Gefühle zu schonen, da er sie nicht heiraten wollte. Ich sagte, es war auf jeden Fall eine Barmherzigkeit, denn sie hätte ihn für den Rest seines Lebens durchfüttern müssen.
    Obwohl uns das etwas von der Last abgenommen haben könnte.
    Aber das war damals, und jetzt ist jetzt, und wie wir alle wissen, haben die Zeiten sich geändert. Cam hat es leichter. Er wohnt zu Hause, dann und wann, zum Beispiel die letzten anderthalb Jahre lang. Seine Haare sind vorne dünn geworden, nicht weiter erstaunlich bei einem Mann von vierunddreißig Jahren, aber hinten schulterlang, strähnig, ergrauend. Er trägt ein grobes braunes Gewand, das aussieht wie aus Sackleinwand (ist das der biblische Sack, sagte ich zu Haro, ich stelle gern die Asche zur Verfügung), und auf seiner Brust hängen alle möglichen Ketten mit Medaillons, Kreuzen, Elchzähnen und so Zeug. An den Füßen trägt er Flechtsandalen. Ein Freund von ihm macht sie. Er lebt von der Fürsorge. Niemand fordert ihn auf, zu arbeiten. Wer könnte auch so grob sein? Wenn er seinen Beruf hinschreiben muss, schreibt er Priester.
    Es ist wahr. Es gibt eine ganze Schule von ihnen, sie nennen sich Priester und haben ein Haus drüben in Kitsilano, in dem auch Cam manchmal wohnt. Sie stehen in Konkurrenz zu der Hare-Krishna-Truppe, nur dass diese hier nicht singen, sie laufen bloß herum und lächeln. Er hat sich so eine Stimme zugelegt, die ich nicht

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