Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro

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geschlossen, aber verdreht, der Spalt, der offen war, zeigte nur das Weiße. Ohne ihr Gebiss im Mund sah sie immer schrecklich aus, wollte nicht, dass wir sie so sahen. Cam hatte sie mit ihrer Eitelkeit aufgezogen. Es war jetzt nicht in ihrem Mund. Die ganze Zeit lang also, dachte ich, die ganze Zeit lang, sogar, als sie jung war, hatte sie in sich, dass sie eines Tages so aussehen würde.
    Sie machten mir keine Hoffnung. Haro kam, warf einen Blick auf sie, legte mir den Arm um die Schultern und sagte: »Val, du musst dich aufs Schlimmste gefasst machen.« Er meinte es gut, aber ich konnte nicht mit ihm reden. Es war nicht seine Mutter, und er hatte keine Erinnerungen. Das war nicht seine Schuld, aber ich wollte nicht mit ihm reden, ich wollte mir nicht von ihm anhören, ich sollte mich besser aufs Schlimmste gefasst machen. Wir gingen in die Krankenhauskantine etwas essen.
    »Du solltest Cam anrufen«, sagte Haro.
    »Warum?«
    »Er wird es wissen wollen.«
    »Wie kommst du auf den Gedanken, dass er es wissen will? Er hat sie gestern Abend allein gelassen und war zu blöde, einen Krankenwagen zu rufen, als er heute früh nach Hause kam und sie vorfand.«
    »Trotzdem. Er hat ein Recht darauf. Vielleicht sagst du ihm, er soll herkommen.«
    »Wahrscheinlich ist er gerade damit beschäftigt, eine Hippiebeerdigung für sie auszurichten.«
    Aber Haro überredete mich, wie er es immer schafft, und ich ging telefonieren. Niemand meldete sich. Ich fühlte mich besser, weil ich angerufen hatte, und bestätigt in dem, was ich gesagt hatte, weil Cam nicht zu Hause war. Ich ging zurück zur Station und wartete allein.
    Gegen sieben Uhr abends tauchte Cam auf. Er war nicht allein. Er hatte eine ganze Sippe von Kollegen mitgebracht, aus dem Priesterhaus, nahm ich an. Sie waren alle genauso angezogen wie er, dieses Nachthemd aus brauner Sackleinwand, Ketten mit Kreuzen und heiligen Kinkerlitzchen, alle hatten lange Haare und waren wesentlich jünger als Cam, bis auf einen, der war wirklich alt, krauser grauer Bart, barfuß – barfuß im März –, keine Zähne. Ich schwöre, dieser alte Mann hatte keinen Schimmer, was vorging. Ich glaube, sie hatten ihn bei der Heilsarmee aufgelesen und ausstaffiert, weil sie einen alten Mann als eine Art Maskottchen oder Talisman oder so was brauchten.
    Cam sagte: »Das ist meine Schwester Valerie. Das ist Bruder Michael. Das ist Bruder John, das ist Bruder Louis.« Und so weiter, und so weiter.
    »Sie haben nichts gesagt, um mir Hoffnung zu machen, Cam. Sie stirbt.«
    »Wir hoffen, nicht«, sagte Cam mit seinem verstohlenen Lächeln. »Wir haben den ganzen Tag lang für sie gearbeitet.«
    »Meinst du, gebetet?«, fragte ich.
    »Arbeit ist ein besseres Wort als Beten, um es zu beschreiben, wenn du nicht verstehst, was es ist.«
    Natürlich verstehe ich nie was.
    »Richtiges Beten ist Arbeit, glaub mir«, sagt Cam, und sie alle lächeln mich auf seine Art an. Sie können nicht stillhalten, wie Kinder, die auf die Toilette müssen, sie winden und schütteln sich und machen kleine Schritte.
    »In welchem Zimmer liegt sie?«, fragt Cam mit sachlicher Stimme.
    Ich dachte daran, dass Mutter starb und durch diesen Schlitz zwischen ihren Augenlidern – wer weiß, vielleicht konnte sie von Zeit zu Zeit etwas sehen – diesen Haufen von Derwischen um ihr Bett tanzen sah. Mutter, die ihren Glauben verloren hatte, als sie dreizehn war, in die Unitarische Kirche eintrat und wieder austrat, als die sich über der Frage, Gott aus den Chorälen zu streichen (sie war dafür), spaltete, Mutter, die ihre letzten bewussten Minuten damit verbringen musste, sich zu fragen, was passiert war, ob sie in eine Zeit zurückversetzt worden war, in der Irrsinnige in ihren verrückten Zeremonien umeinanderhüpften, während sie sich bemühte, mitten in deren Getümmel ihre letzten vernünftigen Gedanken zu denken.
    Gott sei Dank sagte die Krankenschwester nein. Der Stationsarzt wurde geholt und sagte auch nein. Cam bestand nicht darauf, er lächelte und nickte ihnen zu, als hätten sie ihm die Erlaubnis erteilt, dann brachte er die Truppe zurück ins Wartezimmer, und da legten sie direkt vor meinen Augen los. Sie steckten den alten Mann in die Mitte, wo er mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen saß – sie mussten ihm auf die Schulter tippen, um ihn daran zu erinnern, was er zu tun hatte –, und sie hockten sich in einem lockeren Kreis um ihn herum, mit dem Gesicht abwechselnd nach innen und nach außen. Dann