Was ich dir schon immer sagen wollte
besonders heftige Art von Grippe, die dann Haro und mich auf unserer Hochzeitsreise erwischte. Ich habe noch nie von irgendjemandem sonst mit irgendeiner Art von Grippe gehört, der einen Tisch mit Spitzendecke und silbernen Kerzenleuchtern und einer Hochzeitstorte drauf vollgekotzt hat. Man könnte noch sagen, das war Pech; vielleicht waren alle anderen Erkrankten, als es sie ankam, näher an einer Toilette. Und alle anderen gaben sich vielleicht ein bisschen mehr Mühe, es zurückzuhalten, könnte ja sein, denn niemand sonst ist so etwas Besonderes, so ein Nabel der Welt wie mein kleiner Bruder. Nennen wir ihn ein Kind der Natur. So nannte er sich später selbst.
Ich überspringe, was er zwischen seiner Geburt und seiner Kotzerei auf meiner Hochzeit tat, nur so viel: Er hatte Asthma, brauchte wochenlang nicht zur Schule zu gehen und hing bei allen Hörspielserien am Radio. Manchmal gab es einen Waffenstillstand zwischen uns, und ich ließ mir von ihm erzählen, was jeden Tag bei Große Schwester und Straße des Lebens und der Serie mit Gee-Gee und Papa David passierte. Er konnte sehr gut alle Personen auseinanderhalten und alle Handlungsstränge entwirren, das muss ich ihm lassen, und er schmökerte wirklich viel in Wege ins Leseland , diesen hübschen Bänden, die Mutter für uns kaufte und die er später aus dem Haus schmuggelte und für zehn Dollar verhökerte. Mutter sagte, er könnte in der Schule glänzen, wenn er nur wollte. Dein Bruder hat es faustdick hinter den Ohren, sagte sie immer, der hat einige Überraschungen für uns in petto. Womit sie Recht behalten sollte.
In der zehnten Klasse blieb er ganz zu Hause, denn er hatte ein kleines Problem, nachdem er dabei erwischt worden war, wie er für eine Mogelclique die Mathe-Prüfungsaufgaben aus dem Schreibtisch eines Lehrers stiebitzte. Einer der Hausmeister hatte ihm nach der Schule das Klassenzimmer aufgeschlossen, weil er behauptete, an einem Spezialprojekt zu arbeiten. Was in gewisser Weise stimmte. Mutter sagte, er hätte es nur getan, um sich beliebt zu machen, weil er Asthma hatte und nicht am Sport teilnehmen konnte.
Dann. Ein Beruf. Irgendwann taucht die Frage auf, was wird ein Mensch wie mein Bruder – ich sollte ihm wenigstens einen Namen geben, er heißt Cam, was für Cameron steht, Mutter fand, das sei ein passender Name für einen Universitätspräsidenten oder ehrlichen Großindustriellen (denn so sah ihre Berufsplanung für ihn aus) – was wird er machen, wie wird er seinen Lebensunterhalt verdienen? Bis vor Kurzem bezahlte einen der Staat nicht dafür, dass man herumsaß und verkündete, man habe einen kreativen Lebensstil gewählt. Als Erstes bekam er eine Stellung als Kinoplatzanweiser. Mutter hatte ihm die besorgt, sie kannte den Kinobesitzer, es war das alte International in der Blake Street. Damit musste er aber aufhören, weil er eine Dunkelheitsphobie bekam. Die vielen Menschen, die im Dunkeln saßen, sagte er, davon bekam er ein gruseliges Gefühl, ganz sonderbar. Das hinderte ihn nur daran, als Platzanweiser zu arbeiten, es hinderte ihn nicht daran, selber ins Kino zu gehen. Er wurde ein großer Filmfreund. Er verbrachte sogar ganze Tage in den Kinos, sah sich jeden Film zweimal hintereinander an, ging dann ins nächste Kino und sah sich alles an, was da lief. Er musste etwas mit seiner Zeit anfangen, denn Mutter und wir alle glaubten, dass er im Büro vom Greyhound-Busdepot arbeitete. Er ging jeden Morgen zur richtigen Zeit fort zur Arbeit und kam jeden Abend zur richtigen Zeit nach Hause und erzählte viel von dem schrulligen alten Mann, der dem Büro vorstand, und von der Frau mit der Rückgratverkrümmung, die seit 1919 dort arbeitete und auf die Kaugummi kauenden jungen Mädchen schimpfte, ach, lustige Geschichten, die so spannend wie die Radioserien geworden wären, wenn Mutter nicht angerufen hätte, um sich zu beschweren, weil man seine Lohntüte zurückhielt – wegen eines Fehlers in der Schreibweise seines Namens, behauptete er –, und erfuhr, dass er mitten an seinem zweiten Arbeitstag verschwunden war.
Na ja. In Kinos sitzen ist besser als in Kneipen sitzen, sagte Mutter. Wenigstens trieb er sich nicht auf der Straße herum und ließ sich nicht mit kriminellen Banden ein. Sie fragte ihn nach seinem Lieblingsfilm, und er entwortete Sieben Bräute für sieben Brüder . Seht ihr, sagte sie, er interessiert sich für das Leben im Freien, er eignet sich nicht für Büroarbeit. Also schickte sie ihn zum Arbeiten
Weitere Kostenlose Bücher