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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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ausstehen kann, eine sehr dünne, liebe Stimme, alles auf einem Ton. Ich kriege davon den Drang, mich vor ihn hinzustellen und zu sagen: »In Chile war gerade ein Erdbeben, zweihunderttausend Menschen sind umgekommen, in Vietnam haben sie wieder ein Dorf niedergebrannt, in Indien herrscht wie üblich Hungersnot.« Nur um zu sehen, ob er sein ewiges »Se-ehr schö-ön, se-ehr schö-ön« flötet. Er isst natürlich kein Fleisch, er isst Vollkornprodukte und Blattgemüse. Er kam mal in die Küche, als ich Rote Bete schnitt – die verboten sind, da Rüben –, und verkündete: »Ich hoffe, du weißt, dass du gerade einen Mord begehst.«
    »Nein«, sagte ich, »aber ich gebe dir sechzig Sekunden, um zu verschwinden, oder ich begehe einen.«
    Also wie gesagt, er wohnt jetzt teilweise wieder zu Hause, und er war an dem Montagabend da, als Mutter krank wurde. Sie musste sich übergeben. Ein paar Tage vorher hatte er sie auf eine vegetarische Diät gesetzt – sie hatte ihm immer versprochen, es damit zu versuchen –, und er sagte ihr, jetzt kämen die vielen alten Gifte raus, die sich in ihrem Körper angesammelt hatten von dem Fleisch und dem Zucker und all dem, was sie gegessen hatte. Er sagte, das wäre ein gutes Zeichen, und sobald sie alles von sich gegeben hätte, würde es ihr besser gehen. Sie übergab sich immer weiter, und es ging ihr nicht besser, aber er musste fort. Am Montagabend haben sie ihr wöchentliches Treffen im Priesterhaus, wo sie singen und Weihrauch verbrennen oder die schwarze Messe abhalten, was weiß ich. Er blieb lange fort, und als er schießlich nach Hause kam, fand er Mutter bewusstlos auf dem Badezimmerfußboden vor. Er ging zum Telefon und rief mich an.
    »Ich glaube, du kommst besser rüber und schaust mal, ob du Mom helfen kannst, Val.«
    »Was hat sie denn?«
    »Es geht ihr nicht so gut.«
    »Was hat sie? Gib sie mir mal.«
    »Kann ich nicht.«
    »Warum nicht?«
    Ich schwöre, er kicherte. »Ich fürchte, sie ist ohnmächtig.«
    Ich rief die Feuerwehr an und schickte einen Krankenwagen zu ihr, und so wurde sie um fünf Uhr morgens ins Krankenhaus eingeliefert. Ich rief ihren Hausarzt an, er fuhr hin und holte Dr. Ellis Bell, einen der bekanntesten Herzspezialisten der Stadt, denn sie waren zu dem Schluss gelangt, es war das Herz. Ich zog mich an, weckte Haro und erzählte ihm alles, dann fuhr ich selber zum Lions Gate Hospital. Erst um zehn Uhr wurde ich reingelassen. Sie lag auf der Intensivstation. Ich wurde in das schicke kleine schauderhafte Wartezimmer gesteckt. Rote rutschige Stühle, billiger Fußbodenbelag und eine Schale voller Kiesel, aus denen grüne Plastikblätter wuchsen. Da saß ich Stunde um Stunde und las den Reader’s Digest . Die Witze. Und dachte, so ist es also, das ist es nun, sie stirbt. Jetzt, in diesem Augenblick, hinter diesen Türen. Nichts hält an oder hält inne, wie wir es uns irgendwie und gegen unsere Vernunft einbilden. Ich dachte über Mutters Leben nach, den Teil davon, den ich kannte. Jeden Tag zur Arbeit, erst mit der Fähre, dann mit dem Bus. Einkaufen im alten Red-and-White, dann im neuen Safeway – neu, auch schon fünfzehn Jahre alt! An einem Abend in der Woche runter zur Stadtbücherei mit mir im Schlepptau, dann fuhren wir mit dem Bus nach Hause, beladen mit Büchern und einer Tüte Weintrauben, die wir uns beim Chinesen geleistet hatten. Dann die Mittwochnachmittage, als meine Kinder klein waren und ich auf einen Kaffee vorbeiging, und sie uns mit dem Apparat, den sie hatte, Zigaretten drehte. Und ich dachte, all diese Dinge kommen einem nicht gerade wie das Leben vor, wenn man sie tut, sie sind bloß das, was man tut, wenn man seine Tage füllt, und man denkt die ganze Zeit über, etwas wird aufbrechen, und dann, dann wird man im Leben sein. Gar nicht mal, dass man sich das sehnlich wünscht, dieses Aufbrechen, denn man hat es ja ganz bequem so, aber man erwartet es. Dann stirbt man, Mutter stirbt, und es sind bloß die Plastikstühle und Plastikpflanzen wie immer, und draußen ist ein ganz normaler Tag mit Leuten, die einkaufen gehen, und was man gehabt hat, ist schon alles, mehr ist nicht, und in die Stadtbücherei gehen, nur etwas wie das, und im Bus mit Büchern und einer Tüte Weintrauben den Hügel hinauf zurückfahren kommt einem jetzt so wünschenswert vor, oh Gott, es bricht einem das Herz, so sehr wünscht man sich dahin zurück.
    Als sie mich zu ihr ließen, war sie blaugrau im Gesicht, und ihre Augen waren nicht völlig

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