Was ich dir schon immer sagen wollte
sie auf die Behandlung ansprach. Er sagte, es wäre besonders überraschend angesichts der Tatsache, dass sie erst spät ins Krankenhaus eingeliefert worden war und alles, was man anfangs mit ihr machte, kaum Wirkung zeigte, obwohl die Tatsache, dass sie die ersten paar Stunden überlebt hatte, ein gutes Zeichen war. Gestern hatte niemand von diesem guten Zeichen etwas hergemacht, dachte ich.
Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, saß ich mindestens eine Stunde lang da. Ich machte mir eine Tasse Pulverkaffee, und meine Hände zitterten so schlimm, dass ich kaum das Wasser in die Tasse kriegte und danach die Tasse nicht zum Mund führen konnte. Ich ließ den Kaffee kalt werden. Haro kam endlich im Schlafanzug an. Er warf mir einen Blick zu und sagte: »Sachte, Val. Ist sie tot?«
»Es geht ihr etwas besser. Sie spricht auf die Behandlung an.«
»Hätte ich nicht gedacht, so, wie du aussiehst.«
»Ich bin ganz durcheinander.«
»Gestern Nachmittag hätte ich keine fünf Cent auf sie gegeben.«
»Ich weiß. Ich kann’s nicht glauben.«
»Das ist die Anspannung«, sagte Haro. »Ich weiß. Man macht sich stark für etwas Schlimmes, das einem bevorsteht, und wenn es dann nicht kommt, ist das ein sonderbares Gefühl, es geht einem nicht gleich gut, es ist fast wie eine Enttäuschung.«
Enttäuschung. Das war das Wort, das haften blieb. Ich war froh und wirklich dankbar, aber im Innersten dachte ich, Cam hat sie also doch nicht umgebracht, nicht mit seiner Achtlosigkeit und Verrücktheit und auch nicht damit, dass er wegging und sie im Stich ließ, und ich bedauerte, ja, in einem Teil von mir bedauerte ich, dass das stimmte. Und ich wusste, dass Haro das wusste, aber nie mit mir darüber sprechen würde. Das war der wahre Schock für mich, der wahre Grund, warum ich so zitterte. Nicht, ob Mutter weiterlebte oder starb. Es war das, was mir über mich selbst klar wurde.
Mutter wurde wieder gesund, sie erholte sich prächtig. Nachdem sie den Tiefpunkt hinter sich hatte, ging es nur noch bergauf. Sie blieb drei Wochen lang im Krankenhaus, dann kam sie nach Hause, ruhte sich noch drei Wochen lang aus und ging danach wieder zur Arbeit, trat ein bisschen kürzer und arbeitete nur noch von zehn bis vier statt ganztags, die sogenannte Hausfrauenschicht. Sie erzählte allen Leuten von Cam und seinen Freunden im Krankenhaus. Sie fing an Sachen zu sagen wie: »Also dieser Junge von mir mag ansonsten nicht sehr erfolgreich sein, aber man muss zugeben, er hat ein Talent, Leben zu retten.« Oder: »Vielleicht kann Cam ins Wundertätergeschäft einsteigen, an mir hat er jedenfalls ein Wunder vollbracht.« Zu der Zeit sagte er schon, wie jetzt auch, dass er sich mit dieser Religion nicht mehr sicher war, langsam hatte er die anderen Priester und all das satt, kein Fleisch oder Wurzelgemüse essen. Es ist eine Phase, sagt er jetzt, er ist froh, sie durchgemacht zu haben, Selbstentdeckung. Eines Tages ging ich rüber und ertappte ihn dabei, wie er einen alten Anzug mit Krawatte anprobierte. Er sagt, vielleicht wird er die Angebote von Fortbildungskursen für Erwachsene wahrnehmen, er denkt daran, Steuerberater zu werden.
Ich dachte auch darüber nach, eine andere zu werden als die, die ich bin. Ich denke wirklich darüber nach. Ich habe ein Buch mit dem Titel Die Kunst des Liebens gelesen. Viele Dinge schienen klar zu sein, während ich es las, aber hinterher war ich wieder mehr oder weniger die Alte. Was hat Cam denn je getan, um mich wirklich zu verletzen, wie Haro einmal sagte. Und wieso bin ich besser als er, nach dem, was ich empfunden habe in der Nacht, in der Mutter weiterlebte, anstatt zu sterben? Ich gelobte mir selbst, dass ich es versuchen würde. Ich ging eines Tages vorbei und brachte ihnen Kuchen aus der Bäckerei mit – den Cam jetzt so gerne wie jeder andere isst –, und ich hörte ihre Stimmen draußen im Garten – jetzt im Sommer sitzen sie gerne in der Sonne –, Mutter sagte gerade zu einem Besucher: »Oh, das war ich, ich war drauf und dran, ins weite blaue Himmelreich zu entschweben, aber Cam, dieser Narr, ist gekommen und hat draußen vor meiner Tür mit einem Trupp von seinen Hippiefreunden getanzt …«
»Mein Gott, Frau«, donnerte Cam, aber man hörte ihm an, dass es ihm jetzt nicht mehr ernst war, »Mitglieder einer uralten heiligen Priesterschaft.«
Ich hatte ein sonderbares Gefühl, als ginge ich über glühende Kohlen und probierte einen Zauberspruch aus, damit ich mich nicht
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