Was ich dir schon immer sagen wollte
geht es mir auf. Dein Name. Die Stadt, in der du gelebt hast und gestorben bist. Ein Herzanfall, das reicht.
Ich habe die Angewohnheit, deinen letzten Brief in der Handtasche mit mir herumzutragen. Wenn der nächste Brief kommt, ersetze ich ihn, ich lege ihn zu all den früheren Briefen in einen Karton in meinem Schrank. Solange der Brief in meiner Handtasche noch frisch ist, nehme ich ihn gerne in freien Augenblicken heraus und lese ihn, zum Beispiel, wenn ich in einem kleinen Café sitze oder beim Zahnarzt warte. Später nehme ich den Brief überhaupt nicht mehr heraus, ich entwickle eine Abneigung gegen seinen Anblick, mit seinen Eselsohren erinnert er mich daran, wie viele Wochen, wie viele Monate ich nun schon auf den neuen Brief warte. Aber ich lasse ihn in der Tasche, ich lege ihn nicht in den Karton, das wage ich nicht.
Nun jedoch, nachdem ich mit dem Unterricht fertig bin, mit meinen Kollegen zu Mittag gegessen, mit meinen Studenten gesprochen und alles getan habe, was von mir verlangt wird, gehe ich nach Hause und nehme diesen Brief, diesen letzten Brief, aus der Handtasche, tue ihn zu den anderen und schiebe den Karton ganz nach hinten. Absichtlich, nahezu schmerzfrei tue ich das, habe die Tat zuvor bedacht. Ich mache mir einen Drink. Ich setze mein Leben fort.
Jeden Tag, wenn ich vom Unterricht nach Hause komme, sehe ich den Briefkasten und erlebe, um die Wahrheit zu sagen, etwas Angenehmes, das Ausbleiben jeder Erwartung. Zwei Jahre lang ist dieser Blechkasten der zentrale Gegenstand in meinem Leben gewesen, und wenn ich jetzt sehe, wie er wieder neutral wird, nichts von Bedeutung verspricht und zurückhält, so gleicht das dem Gefühl, nachdem ein Schmerz aufgehört hat. Niemand weiß, dass ich etwas verloren habe, niemand wusste von diesem Teil meines Lebens außer ganz allgemein und gerüchteweise; als du herkamst, sind wir niemandem begegnet. Also kann ich weitermachen, als wäre nichts geschehen, als hätte es dich nie gegeben. Aber nach einer Weile erzähle ich es doch jemandem, einem Mann, mit dem ich zusammenarbeite, Gus Marks. Er hat sich vor Kurzem von seiner Frau getrennt. Er führt mich zum Abendessen aus, wir trinken und erzählen einander unsere Geschichten, dann gehen wir, meistens auf meine Initiative hin, ins Bett. Er ist behaart und traurig, ich bin ekstatisch. Ich überrasche mich selbst. Ein paar Tage später bittet er mich, mit ihm Kaffee trinken zu gehen, und sagt: »Ich mache mir Sorgen um dich, ich meine, vielleicht solltest du – jemanden aufsuchen.«
»Du meinst, einen Psychiater?«
»Um zu reden.«
»Ich werde darüber nachdenken.«
Aber insgeheim lache ich über ihn, denn ich bin mit einem anderen Plan beschäftigt. Sobald das Semester vorbei ist, Ende April, werde ich dich besuchen fahren, werde ich die Stadt besuchen, in der du gestorben bist. Ich bin noch nie dort gewesen. Es wurde nie vorgeschlagen. Die Aussicht auf diese Reise macht mich erstaunlich fröhlich. Ich kaufe eine modische Sonnenbrille, neue leichte Kleidung.
Liebe ist keineswegs unvermeidbar, es wird eine Wahl getroffen. Es lässt sich allerdings nur schwer sagen, wann die Wahl getroffen wurde oder wann sie, obwohl es nichts Ernstes zu sein schien, unumkehrbar wurde. Es gibt davor keine klare Warnung. Ich erinnere mich, wie ich mit dir beim Essen saß, und als du sagtest: »Ich habe dich geliebt. Ich liebe dich jetzt«, sah ich an dir vorbei, betrachtete mich in der Spiegelwand des Restaurants, und ich schämte mich für dich. Ich dachte, Gott weiß warum, dass du nur galant wärst; ich nahm die Worte nicht ernst und dachte, dass du mich gleich anschauen und merken würdest, dass du sie zu der falschen Person gesagt hattest, zu einer Frau, die sich von der ganzen Haltung, dem Vokabular verabschiedet hatte, um mit solchen Huldigungen umzugehen. Ich hatte einige Zeit zuvor alle Intrigen, alle ängstlichen Nebenhandlungen eingestellt. Ich hatte aufgehört, meinen Haaren eine dunkle Spülung zu verpassen, und ich tat kein Eiklar mehr oder Hafermehl mit Honig oder Hormoncreme oder Rouge oder sonst was auf mein Gesicht.
Dann begriff ich, dass du meintest, was du sagtest, und ich hatte mehr denn je den Eindruck, dass du dich irren musstest.
»Bist du sicher, dass du dich nicht an jemand anders erinnerst?«
»So vermodert ist mein Verstand noch nicht.«
Davor hatten wir uns ungezwungen unterhalten. Ich erkundigte mich nach deiner Frau.
»Sie tanzt nicht mehr. Ihr Knie ist operiert worden.«
»Es muss
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