Was ich dir schon immer sagen wollte
wahrscheinlicher ist, dass wir durch einander einen Blick auf etwas erhaschten, über das wir nicht nachgedacht hatten – beiseitegetan hatten wie in deinem Fall oder noch nicht entdeckt hatten wie in meinem.
Ich erinnerte mich an denselben Tag wie du, als wir uns vor zwei Jahren völlig unerwartet in einer Stadt begegneten, in der keiner von uns beiden lebte. Wir sprachen davon, nachdem wir bei unserem spontanen Lunch viel Wein getrunken hatten.
»Einen Tag haben wir einen Spaziergang gemacht. Ich musste dieses Ding …«
»Den Kinderwagen. Da saß damals Jocelyn drin.«
»Über Felsbrocken und Schlamm heben. Daran kann ich mich noch erinnern.«
Ein sonniger, ein schöner warmer Tag im Frühling, im April oder vielleicht sogar im März. Ich war zu dem Drugstore im Uni-Einkaufszentrum im Wintermantel gegangen, weil ich einfach nicht geglaubt hatte, dass der Tag wirklich so warm war, wie er aussah. Sobald ich dich sah, wünschte ich, ich könnte nach Hause gehen und von vorn anfangen, mir die Haare sorgfältiger kämmen und einen dunkelgrauen Pullover aus Velourswolle anziehen, den ich besaß. Ich konnte den Mantel nicht ausziehen, weil ich ein T-Shirt trug, das Jocelyn mit Orangensaft bekleckert hatte.
Ich kannte dich nicht gut, du wohntest am anderen Ende der Baracken. Du warst älter als die meisten von uns, als Doktorand aus der wirklichen Welt der Arbeit und des Krieges an die Uni zurückgekehrt (ein Fehler, du bist nicht geblieben, bald nach dem Tag unseres Spaziergangs hast du dir eine Stellung bei einer Illustrierten besorgt). Deine Frau fuhr jeden Morgen fort, um an einer Tanzschule zu unterrichten. Sie war klein, dunkel, zigeunerisch und extrem selbstsicher, im Vergleich zu den wuschigen, verschlafenen Nur-Hausfrauen.
Wir unterhielten uns vor dem Drugstore, und du sagtest, es sei ein zu schöner Tag, um ihn mit Arbeit zu verbringen, wir sollten spazieren gehen. Wir gingen nicht in Richtung Universitätsgelände mit seinen breiten, bequemen Wegen, sondern zu jenem verwilderten Waldstück oberhalb des Flusses, in das Studenten – die unverheirateten natürlich – tagsüber gingen, um zu knutschen, und nachts, um es zu treiben. An dem Tag war niemand da. Die Jahreszeit war zu früh, die Mildtätigkeit des Wetters hatte alle überrascht. Der Ort eignete sich wenig für einen Spaziergang mit einem Kinderwagen. Wie du sagtest, du musstest ihn über Felsbrocken und schlammige Wegstellen hinwegheben. Unsere Unterhaltung hatte mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Wir sagten nichts von Bedeutung. Wir berührten uns kein einziges Mal. Wir fühlten uns immer unbehaglicher, als deutlich wurde, dass unser Spaziergang uns nicht das bringen würde, was wir vorgeblich von ihm erwarteten – eine Stunde entspannter Gesellschaft an diesem schönen Tag – oder was wir eigentlich von ihm erwarteten. Diese Art von Spannung war damals für mich etwas Neues. Ich konnte die Situation nicht einschätzen und manipulieren wie später mit anderen Männern. Ich konnte nicht einmal sicher sein, dass diese Spannung über mich selbst hinausging. Ich verabschiedete mich von dir mit einem Gefühl, als hätte ich mich bei einem Rendezvous unbeholfen und uninteressant verhalten. Am nächsten Tag oder am Tag danach, als ich wie üblich auf der Couch las, spürte ich mich beim Gedanken an dich in eine liebevolle Ferne fallen, und das war der Anfang, nehme ich an, die Erkenntnis von all dem, was es außerdem noch geben konnte. Also sagte ich zu dir: »Ich war verliebt.«
Würdest du gerne wissen, wie ich von deinem Tod erfahre? Ich gehe in die Dozentenküche, um mir vor meinem Seminar um zehn Uhr eine Tasse Kaffee zu machen. Dodie Charles, die immer etwas bäckt, hat einen Kirschfrüchtekuchen mitgebracht. (Etwas, womit wir alten Hasen uns in diesen Phantasievorstellungen auskennen, ist die Wichtigkeit von Einzelheiten, von Konkretem; jawohl, ein Kirschfrüchtekuchen.) Er ist in Wachspapier und außerdem in eine Zeitung eingewickelt. The Globe and Mail, nicht die Lokalzeitung, die hätte ich gesehen. Beim Überfliegen dieser eine Woche alten Zeitung, während ich darauf warte, dass mein Wasser kocht, sehe ich den kleinen Artikel mit der unauffälligen Überschrift VETERANENJOURNALIST GESTORBEN. Ich denke über das Wort Veteran nach, bedeutet es, jemand hat im Krieg gekämpft, oder ist es nur ein Adjektiv, obwohl es in diesem Fall beides bedeuten könnte, da es besagt, dass der Mann Kriegsberichterstatter war … Erst da
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