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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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gegen ihre Beine. Sie schrien, weil sie auch an die Reihe kommen wollten.
    »Wenn sie uns nicht ranlassen, sind sie Schweine«, sagte Carol, und sie schrien zusammen: »Wir haben’s gefunden! Wir haben’s gefunden!«
    Die Jungen antworteten nicht, aber nach einer Weile brachten sie das Boot an Land, und Carol und Eva stürzten keuchend die Uferböschung hinunter.
    »Leckt es?«
    »Nein, noch nicht.«
    »Wir haben eine Schöpfdose vergessen«, jammerte Carol, stieg aber trotzdem mit Eva ein, und Frank stieß sie ab, mit dem Ruf: »Ab geht’s in ein feuchtes Grab!«
    Und das Sonderbare daran, in einem Boot zu sein, war, dass es nicht auf dem Wasser wippte wie ein Baumstamm, sondern sich ins Wasser schmiegte, so dass man sich darin fühlte, als sei man nicht auf etwas im Wasser, sondern im Wasser selbst. Bald fuhren alle im Boot in gemischter Reihenfolge, zwei Jungen und ein Mädchen, zwei Mädchen und ein Junge, ein Mädchen und ein Junge, bis alles so durcheinander war, dass sich nicht mehr feststellen ließ, wer als Nächster an die Reihe kam, und es ohnehin allen egal war. Sie fuhren flussabwärts – die, die nicht im Boot saßen, rannten am Ufer entlang, um Schritt zu halten. Sie kamen unter zwei Brücken durch, eine aus Eisen, eine aus Beton. Einmal sahen sie einen großen Karpfen, der sich einfach ausruhte, er schien ihnen in dem von einer Brücke verdunkelten Wasser zuzulächeln. Sie wussten nicht, wie weit sie auf dem Fluss gelangt waren, aber die Gegend hatte sich verändert – das Wasser war flacher, das Land platter geworden. Am anderen Ende einer nicht eingezäunten Wiese sahen sie ein Gebäude, das wie ein verlassenes Haus aussah. Sie zogen das Boot aufs Ufer, banden es fest und machten sich auf den Weg über die Wiese.
    »Das ist der alte Bahnhof«, sagte Frank. »Das ist Pedder Station.« Die anderen hatten diesen Namen schon einmal gehört, aber er war derjenige, der Bescheid wusste, denn sein Vater war der Bahnhofsvorsteher in der Stadt. Er sagte, das war ein Bahnhof an einer Nebenstrecke, die aufgelassen worden war, und hier hatte ein Sägewerk gestanden, aber vor langer Zeit.
    Im Bahnhof war es dunkel und kühl. Alle Fenster waren zerbrochen. Glas lag in Scherben und in größeren Stücken auf dem Boden. Sie gingen umher auf der Suche nach den großen Scherben und zertraten sie, es war wie die Eisschicht auf Pfützen eintreten. Einige Aufbauten waren noch da, man konnte sehen, wo der Fahrkartenschalter gewesen war. Eine umgekippte Bank lag da. Jemand war hier gewesen, es sah aus, als ob andauernd welche herkamen, obwohl es so weit fort von allem war. Bierflaschen und Limoflaschen lagen herum, auch leere Zigarettenschachteln, Kaugummi- und Bonbonpapier, die Verpackung von einem Laib Brot. Die Wände waren bedeckt mit verblassten und frischen Bleistift- und Kreidekritzeleien und Messerritzungen.
    ICH LIEBE RONNIE COLES
    ICH WILL FICKEN
    KILROY WAR HIER
    RONNIE COLES IST EIN ARSCHLOCH
    WAS MACHST DU HIER?
    WARTE AUF EINEN ZUG
    DAWNA    MARY-LOU    BARBARA    JOANNE
    Es war aufregend, in diesem großen, dunklen, leeren Gebäude zu sein, mit dem Lärm des zerbrechenden Glases und ihren Stimmen, die vom Dach zurückgeworfen wurden. Sie hoben die alten leeren Bierflaschen an den Mund. Das erinnerte sie daran, dass sie Hunger und Durst hatten, also räumten sie eine Stelle in der Mitte frei, setzten sich hin und aßen. Sie tranken die Limo so lauwarm, wie sie war. Sie aßen alles auf, was da war, und leckten dann die Reste von Erdnussbutter und Marmelade von dem Papier ab, in das die Sandwiches eingewickelt gewesen waren.
    Sie spielten Wahrheit oder Wagemut.
    »Wagst du, an die Wand zu schreiben, ich bin ein blödes Arschloch, und dann deinen Namen darunter?«
    »Sag die Wahrheit – was ist die schlimmste Lüge, die du je erzählt hast?«
    »Hast du je ins Bett gemacht?«
    »Hast du je geträumt, dass du völlig nackt über die Straße gehst?«
    »Wagst du, rauszugehen und auf das Eisenbahnsignal zu pinkeln?«
    Es war Frank, der das tun musste. Sie konnten ihn nicht sehen, nicht mal seinen Rücken, aber sie wussten, dass er es machte, sie hörten das zischende Geräusch seiner Pisse. Sie saßen alle ganz still, verdutzt, unfähig, sich die nächste Mutprobe auszudenken.
    »Wagt ihr es«, sagte Frank vom Eingang her, »wagt ihr es alle?«
    »Was?«
    »Eure Sachen auszuziehen.«
    Eva und Carol kreischten.
    »Jeder, der das nicht machen will, muss … ja, muss auf Händen und Knien auf dem

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