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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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sie aus dem Wasser tapsten, entwickelten sie einen dieser Lachkrämpfe, bei denen, sobald die eine Zeichen von Erschöpfung zeigte, die andere ächzte und wieder anfing, so dass sie hilflose – und bald wirklich hilflose – Grimassen zogen, sich krümmten und umklammerten, als litten sie schlimmste Schmerzen.

Scharfrichter
    Helena stinkt,
    Ihr Vater, der trinkt.
    Was gab es deswegen zu weinen? Ich weiß nicht, ob ich geweint habe, ich kann mich nicht erinnern. Ich wurde gut vertraut mit Bürgersteigen und dem Boden unter Bäumen, neutralen Dingen, zu denen ich hinunterschauen konnte, um keinen Anstoß zu erregen. Ich wunderte mich darüber, wie manche es schafften, sich von nichts niederdrücken zu lassen – nicht davon, dass sie schielten oder einen kleinen Bruder hatten, der schwachsinnig war, oder in einem rußigen Haus neben den Eisenbahngleisen wohnten. Ich war das Gegenteil, dünnhäutig, wie Robina sagte. Ich erwartete Schimpf.
    Hau ab, Helena
    Hau ab, Helena
    Hau ab, Helena
    Hau ab, Helena
    Sie scharten sich hinter mir zusammen, wenn ich den Schulhügel hinunterging. Liebliche Stimmen hatten sie, gerade am Rande der Aufrichtigkeit, der mörderischen Unschuld. Wenn ich bloß gewusst hätte, was tun, wenn ich bloß gewusst hätte, wie mich umdrehen. Das kann man nicht lernen. Es ist eine Gabe, wie die Fähigkeit, eine Melodie richtig zu singen.
    Ich war sonderbar angezogen, das war eines. Ein marineblaues Blouson, das den Uniformen ähnelte, die in Privatschulen getragen wurden. (Wohin meine Mutter mich bestimmt geschickt hätte, wenn sie das Geld gehabt hätte.) Lange weiße Strümpfe, winters und sommers, egal, wie nass und dreckig unsere Straße war. Im Winter waren die Wulste der langen Unterwäsche zu sehen, die ich darunter tragen musste. Oben auf dem Kopf eine große Schleife mit abstehenden, gebügelten Ecken. Meine Haare in Ringellöckchen, hineingedreht mit einem in Wasser getauchten Kamm, kein Stil, an dem irgendjemand anders Gefallen fand. Aber hätte ich irgendetwas tragen können, das richtig gewesen wäre? Einmal bekam ich einen neuen Wintermantel, den ich wunderbar fand. Er hatte einen Kragen aus Eichhörnchenpelz. Rattenfell, Rattenfell, hat ner Ratte das Fell abgezogen und trägt es um den Hals!, riefen sie mir hinterher. Danach mochte ich den Pelz nicht mehr, mochte nicht mehr, wie er sich anfühlte; irgendwie zu weich, zu intim, zu erniedrigend.
    Ich sah mich immer nach Verstecken um. In großen Häusern, in öffentlichen Gebäuden hielt ich Ausschau nach kleinen, hohen Fenstern, dunklen Winkeln. Das alte Gebäude der Handelsbank hatte einen Turm, den ich sehr mochte. Ich stellte mir vor, mich dort zu verstecken oder in irgendeinem anderen hochgelegenen kleinen Raum, sicher mitten in der Stadt, außer Acht gelassen, vergessen. Nur dass nachts jemand kam und mir etwas zu essen brachte.

    Das mit meinem Vater stimmte. Aber er war meistens fort, zur Kur, in einem Sanatorium, auf Reisen. Vor meiner Geburt war er Abgeordneter im Parlament. 1911, in dem Jahr, in dem Laurier abgelöst wurde, erlitt er eine schwere Niederlage. Erst wesentlich später, als ich etwas von Regierungswechseln erfuhr, entdeckte ich, dass diese Niederlage nur ein Begleitumstand einer nationalen Katastrophe gewesen war (wenn man denn geneigt war, das als eine Katastrophe zu betrachten), aber als Kind glaubte ich immer, dass mein Vater aus persönlichen Gründen schmählich und schimpflich abgelehnt worden war. Meine Mutter verglich das Ereignis mit der Kreuzigung. Er war auf den Balkon vom Queen’s Hotel hinausgetreten, um zu sprechen, seine Niederlage einzugestehen, und war daran gehindert worden, niedergeschrien von Tories, die brennende Besen schwenkten. Ich hatte, als ich das hörte, keine Ahnung, dass Politiker sich manchmal solchen Szenen stellen müssen. Meine Mutter setzte den Beginn seines Niedergangs auf diesen Zeitpunkt fest. Obwohl sie nicht ausführte, welche Gestalt dieser Niedergang nahm. Alkoholiker, das war ein Wort, das in unserem Haus nicht in den Mund genommen wurde; ich glaube, zu jener Zeit wurde es kaum irgendwo in den Mund genommen. Säufer, das war das Wort, das benutzt wurde, jedenfalls in der Stadt.
    Meine Mutter mochte nicht mehr in dieser Stadt einkaufen, bis auf Lebensmittel, die sie von Robina telefonisch bestellen ließ. Sie mochte auch nicht mehr mit etwelchen Damen reden, Frauen von Totschlägern und Tories.
    Ich werde nie mehr den Fuß auf diese Schwelle setzen.
    Das sagte sie

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