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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Boden herumkriechen.«
    Alle schwiegen, bis Eva beinahe selbstgefällig fragte: »Was zuerst?«
    »Schuhe und Strümpfe.«
    »Dann müssen wir rausgehen, hier liegen zu viele Scherben rum.«
    Sie zogen sich im Eingang Schuhe und Strümpfe aus, geblendet vom plötzlichen Sonnenlicht. Die Wiese vor ihnen war hell wie Wasser. Sie rannten dorthin, wo früher die Gleise verlaufen waren.
    »Nicht so schnell, nicht so schnell«, rief Carol. »Da sind Disteln!«
    »Oben! Alle ziehen aus, was sie oben anhaben!«
    »Mach ich nicht! Machen wir nicht, was, Eva?«
    Aber Eva wirbelte in der Sonne auf dem ehemaligen Gleisbett herum. »Wer’s nicht tut, hat keinen Mut! Wahrheit oder Wagemut!«
    Sie knöpfte ihre Bluse auf, während sie herumwirbelte, als wüsste sie nicht, was ihre Hand tat, und schleuderte sie fort.
    Carol zog ihre auch aus. »Das mach ich nur, weil du’s gemacht hast!«
    »Unten!«
    Diesmal sagte niemand ein Wort, alle beugten sich vor und zogen sich aus. Eva, als Erste nackt, rannte über die Wiese, und dann rannten alle los, alle fünf rannten sie durch das kniehohe warme Gras auf den Fluss zu. Ohne Angst davor, erwischt zu werden, machten sogar mit Sprüngen und Schreien auf sich aufmerksam, als wäre irgendjemand da, der sie hören oder sehen könnte. Sie fühlten sich, als würden sie gleich von einer Klippe springen und fliegen. Sie fühlten, dass ihnen etwas widerfuhr, das anders war als alles, was ihnen bislang widerfahren war, und es hatte etwas mit dem Boot zu tun, mit dem Wasser, dem Sonnenlicht, dem dunklen, kaputten Bahnhof und mit ihnen allen. Sie dachten voneinander jetzt kaum noch als Namen oder Personen, sondern als hallende Schreie, Lichtspiegelungen, alle wagemutig und weiß und laut und schamlos, schnell wie Pfeile. Sie rannten ohne innezuhalten ins kalte Wasser, und als es ihnen fast über die Beine reichte, ließen sie sich hineinfallen und schwammen. Was sie zum Schweigen brachte. Stille und Staunen kamen über sie. Tauchend, schwebend, jeder für sich, glitten sie durchs Wasser, geschmeidig wie Nerze.
    Eva richtete sich mit tropfenden Haaren auf, Wasser lief ihr übers Gesicht. Es reichte ihr bis zur Taille. Sie stand auf glatten Steinen, die Füße breit auseinander, mit der Strömung zwischen den Beinen. Ungefähr einen Meter weit fort richtete Clayton sich ebenfalls auf, beide blinzelten sich das Wasser aus den Augen, schauten einander an. Eva wandte sich nicht ab, versuchte auch nicht, sich zu verstecken; sie zitterte von dem kalten Wasser, aber auch vor Stolz, Scham, Waghalsigkeit und Übermut.
    Clayton schüttelte heftig den Kopf, als wollte er etwas daraus vertreiben, dann bückte er sich und nahm einen Mundvoll Flusswasser. Er richtete sich mit vollen Backen auf, formte mit den Lippen ein kleines Loch und schoss mit dem Wasser auf sie, als käme es aus einem Schlauch, traf sie genau, erst auf eine Brust, dann auf die andere. Wasser aus seinem Mund lief ihr über den Körper. Er johlte, als er es sah, ein lautes, selbstbewusstes Geräusch, das niemand von ihm erwartet hätte. Die anderen schauten von ihren Stellen im Wasser auf und kamen näher, um zu erfahren, was los war.
    Eva ging in die Knie und glitt ins Wasser, tauchte völlig unter. Sie schwamm, und als sie flussabwärts den Kopf aus dem Wasser hob, sah sie Carol hinter sich herkommen, die Jungen waren schon am Ufer, rannten ins Gras, zeigten ihre mageren Rücken, ihre weißen, flachen Hinterteile. Sie lachten und riefen sich Dinge zu, aber Eva konnte nichts hören wegen des Wassers in ihren Ohren.
    »Was hat er gemacht?«, fragte Carol.
    »Nichts.«
    Sie krochen an Land. »Lass uns im Gebüsch bleiben, bis sie weg sind«, sagte Eva. »Ich hasse sie sowieso. Und wie. Du nicht auch?«
    »Klar«, sagte Carol, und sie warteten, nicht sehr lange, bis sie die Jungen immer noch laut und aufgeregt zu der Stelle ein bisschen flussaufwärts hinunterlaufen sahen, wo sie das Boot gelassen hatten. Sie hörten sie hineinspringen und losrudern.
    »Die haben es auf dem Rückweg jetzt richtig schwer«, sagte Eva, schlang die Arme um sich und zitterte heftig. »Aber was soll’s? Es war sowieso nie unser Boot.«
    »Was, wenn sie uns verpetzen?«, fragte Carol.
    »Wir werden sagen, es ist alles gelogen.«
    Eva hatte nicht an diesen Ausweg gedacht, bis sie ihn aussprach, aber sowie sie das tat, fühlte sie sich beinahe wieder unbeschwert. Er war so leicht, so spöttisch, dass beide kichern mussten, sie schlugen sich auf die Schenkel, und als

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