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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Tat gelungen.
    Robina sah inzwischen für mich merkwürdig aus; bizarr, verbohrt, nicht sehr sauber. Trotzdem hätte ich mit ihr geredet, ich war dazu bereit. Aber sie wandte jedes Mal den Kopf ab und sagte kein Wort, zeigte mir, dass ich eine von jenen Personen geworden war, die sie beleidigt hatten.

    Robina mag inzwischen tot sein. Gut möglich, dass Jimmy und Duval auch tot sind, obwohl das schwer vorstellbar ist. Ich habe immer noch ein paar Jahre bis zum Ruhestand vor mir. Ich bin Witwe, arbeite im öffentlichen Dienst und wohne im achtzehnten Stock eines Mietshauses. Es macht mir nichts aus, allein zu sein. Abends lese ich, schaue fern. Nein, nicht immer. Manchmal sitze ich im Dunkeln, trinke Whisky mit Wasser und denke nutzlos und hilflos, fast gemütlich über Dinge wie diese nach, die ich vergessen hatte oder an die zu denken ich lange Zeit nicht ertragen konnte.
    Wenn alle tot sind, die sich daran erinnern können, dann, nehme ich an, wird mit dem Feuer Schluss sein, geradeso, als wäre niemand je durch diese Tür gerannt.

Marrakesch
    Dorothy saß auf einem Küchenstuhl auf der Seitenveranda und aß Nüsse. Sie hatte sich angewöhnt, Nüsse aus dem Automaten im Drugstore zu ziehen. Sie aß sie aus der weißen Papiertüte mit dem Eichhörnchen darauf. Im Alter von siebzig Jahren war sie gezwungen gewesen, wegen Schmerzen in der Brust das Rauchen aufzugeben. Die Schulbehörde hatte es nicht geschafft, sie dazu zu bewegen. Eine zuvor von den Eltern unterschriebene Eingabe hatte nichts bewirkt. Gordie Lomax – inzwischen tot – brachte ihr die Eingabe, die zuerst der Schulbehörde zugeschickt worden war. Sie sah sie kritisch durch wie ein zu korrigierendes Diktat. »Sag ihnen, es ist mein einziges Laster«, verkündete sie fest, und Gordie ging zurück und gab es weiter.
    »Sie sagt, es ist ihr einziges Laster.«
    Viola prophezeite, dass Dorothy von den Nüssen dick werden würde, aber Dorothy hatte schon immer essen können, was sie wollte, ohne dick zu werden. Was Viola erboste, denn sie konnte es ihr nicht gleichtun, konnte keine Nüsse und Äpfel essen. Viola trug ein Gebiss.
    Dorothy war gerade allein. Viola war auf den Friedhof gegangen und hatte Jeanette mitgenommen. Morgens vor dem Frühstück hatte sie die Rabatte ihrer Rittersporne beraubt, die jetzt auf ihrem Höhepunkt waren und in allen Tönen von Blau und Violett blühten. Sie brauchte einen Strauß für das Grab ihres Mannes, einen für das Grab von Dorothys Mann (sie hatte ihn übernommen, da Dorothy selten auf den Friedhof ging) und einen für das ihrer Eltern.
    »Ich dachte, vielleicht magst du eine Fahrt hinaus zum Letzten Ausguck«, sagte sie beim Frühstück zu Jeanette. So hatte ihr Mann den Friedhof im Scherz genannt. Natürlich wusste Jeanette nicht, wovon sie redete. Viola hatte vertraulich, kokett gesprochen. Sie konnte nicht anders. Zum Kassierer im Lebensmittelgeschäft, dem Autoschlosser in der Werkstatt, dem Jungen, der den Rasen mähte, neigte sie ihren silbernen, glatt gewellten Kopf in dieser geheimniskrämerischen Weise und murmelte einige entschuldigende Worte, auf die sie oft keine Antwort erhielt. Dorothy war das peinlich. Um Violas Lächerlichkeit wettzumachen, musste sie schroffer und sachlicher sein, als sie sonst vielleicht gewesen wäre.
    »Sie meint den Friedhof«, sagte Dorothy.
    »Oh, ich liebe den Friedhof«, sagte Jeanette mit ihrem zärtlichen, charmanten Lächeln.
    »Was gibt es da zu lieben?«, fragte Dorothy und schaute in ihre Tasse mit schwarzem Kaffee, als sei sie ein Brunnen.
    »Na ja, ich liebe die Aussicht«, sagte Jeanette versöhnlich. »Und die alten Grabsteine. Ich lese gerne die Inschriften auf den alten Grabsteinen.«
    »Dorothy denkt, ich bin morbide«, sagte Viola listig.
    »Ich denke gar nichts«, sagte Dorothy und wurde heiterer, denn ihr war etwas eingefallen. »Glasgefäße sind auf dem Friedhof verboten.« Sie schaute zu den Sträußen, die Viola in Einweckgläser gesteckt hatte. »Du wirst sie rausnehmen und in diese Plastiktüten stecken müssen.«
    »Verboten?«, fragte Viola. »Warum das denn?«
    »Wegen Vandalismus«, antwortete Dorothy zufrieden. »Ich habe es im Radio gehört.«
    Jeanette war Dorothys Enkelin. Die Leute hier in der Stadt, die sie mit den beiden alten Damen sahen – und mit Viola, die immer noch ihr Auto fuhr, häufiger als mit Dorothy –, waren sich dessen meistens nicht bewusst. Sie hielten sie für eine entfernte junge Verwandte. Obwohl Dorothy ihr ganzes

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