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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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sehr sie das immer ärgerte und dazu trieb, Dinge zu verteidigen, über die sie eigentlich gar nichts wusste und die sie auch nicht verteidigen mochte. Lebensqualität. Sie dachte nicht in solchen Kategorien und redete auch nicht mit Leuten, die es taten. Jeanette war schwer zu verstehen.
    »Sie hat dieses hübsche Auto«, hatte Viola gesagt. »Sie hat ihre Ausbildung und ihre Stellung, sie braucht ihr Geld mit niemandem zu teilen, und sie ist schon überall gewesen – wäre das für dich und mich nicht ein Traum gewesen –, und trotzdem ist sie nicht glücklich.« Viola dachte natürlich, dass Jeanette unglücklich und verbittert war, weil es ihr nicht gelungen war, einen Mann dazu zu bringen, sie zu heiraten. Dorothy dachte das nicht und war nicht sicher, ob verbittert oder gar unglücklich das richtige Wort war, um zu beschreiben, was Jeanette war. Pubertär war das Wort, das ihr in den Sinn kam, aber das erklärte nicht genug.
    Dorothy selbst hatte sich als junges Mädchen – sie konnte sich deutlich daran erinnern – in das Gras neben dem Feldweg auf der Farm ihres Vaters geworfen, schreiend und heulend, und warum? Weil ihr Vater und ihre Brüder einen Zaun, einen schiefen, alten, bemoosten Lattenzaun, durch Stacheldraht ersetzten! Natürlich kümmerte sich niemand um ihren Protest, und nach einer Zeit stand sie auf, wusche sich das Gesicht und gewöhnte sich an den Stacheldraht. Wie hatte sie damals Veränderungen gehasst und sich an alte Dinge geklammert, alte, bemooste, verfallene, pittoreske Dinge. Inzwischen hatte sie sich selbst verändert. Sie sah durchaus, was Schönheit war; sie wusste die gesprenkelten Schatten auf dem Gras, auf dem grauen Bürgersteig zu schätzen, aber sie sah, dass all das in gewisser Weise nebensächlich war. Es bedeutete ihr nicht viel. Ebenso wenig wie vertraute Dinge. Diese Häuser auf der anderen Straßenseite standen für sie seit vierzig Jahren dort drüben und mussten ihr vermutlich schon lange davor beiläufig vertraut gewesen sein, denn diese Stadt war die Stadt ihrer Kindheit gewesen, und sie war oft genug mit ihrer Familie diese Straße entlanggefahren, vom Lande kommend, auf dem Weg, die Pferde im Stall der Methodistenkirche unterzustellen. Aber wenn diese Häuser alle abgerissen werden würden, beseitigt mitsamt ihren Hecken und Kletterpflanzen und Gemüsebeeten und Apfelbäumen und was nicht sonst noch alles, und ein Einkaufszentrum an ihrer Stelle errichtet werden würde, sie würde dem nicht den Rücken kehren. Nein, sie würde genauso dasitzen wie jetzt, vor sich hin schauen, nicht leer, sondern voller Neugier auf die Autos, das Straßenpflaster, die blinkenden Neonreklamen, die Ladenzeilen und das riesige, geschweifte, beherrschende Gebäude des Supermarkts. Alles war ihr recht; schön oder hässlich hatten für sie keine Bedeutung mehr, denn in allem ließ sich etwas entdecken. Das war ein Gefühl, das sie beschlichen hatte, als sie älter wurde, und es war überhaupt kein friedliches, loslassendes Gefühl, wie man es von alten Leuten erwartet; es war das genaue Gegenteil, nagelte sie an Ort und Stelle fest in einer gereizten, verwirrten Konzentration.
    »Du siehst nicht so aus, als hättest du sehr angenehme Gedanken«, hatte Viola mehr als einmal zu ihr gesagt. »Angenehme Gedanken halten dich jung.«
    »Ist das so?«, fragte Dorothy. »Also ich war mal jung.«
    Ohne die Bäume war es möglich, bis zur Kreuzung von der Mayo und der Harper Street zu schauen. Dorothy sah Blair King um die Ecke biegen, auf dem Heimweg von der Arbeit. Er arbeitete bei dem Radiosender, der nur zwei Querstraßen weiter war. Wie die meisten derer, die beim Radiosender arbeiteten, stammte er nicht aus dieser Stadt und würde wahrscheinlich in ein paar Jahren weiterziehen. Er hatte mit seiner Frau das Haus gleich neben dem von Dorothy gemietet, aber seine Frau war zur Zeit nicht da. Sie lag seit einigen Wochen im Krankenhaus.
    Blair King blieb stehen, um das auswärtige Nummernschild an Jeanettes Auto zu betrachten.
    »Das gehört meiner Enkeltochter, die uns besucht!«
    Warum hatte sie das gerufen? Sie und Viola kannten die Kings nicht besonders gut; sie besuchten einander nie. Er war recht freundlich, auf eine Art, die halb geschäftsmäßig wirkte, aber sie war kühl. Beide beschäftigten sich kaum mit ihrem Garten. Sie hatte in der Stadtbücherei gearbeitet, bis sie krank wurde. Dorothy und Viola hatten dort mehr von ihr gesehen als ums Haus herum. Sie trug den Rock und den

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