Was ich dir schon immer sagen wollte
Leben in oder in der Nähe dieser Stadt verbracht hatte, konnte sich kaum jemand daran erinnern, dass ihr Mann gestorben war, als ihr Sohn noch klein war, dass der Bobby hieß und dass er hier vier Jahre lang auf die Highschool gegangen war, bevor er die Stadt verließ, um sich draußen im Westen in den letzten Jahren vor dem Krieg Arbeit zu suchen. Seit dem Tod ihres Mannes hatte Dorothy in der Schule bis zu ihrem Ruhestand die siebente Klasse unterrichtet, und deswegen waren die Leute geneigt zu vergessen, dass sie irgendeine Art von Privatleben hatte. Sie war zu einem Fixstern im voranschreitenden, sich wandelnden Leben vieler, vieler Menschen geworden. Sie auf der Straße zu sehen erinnerte Lastwagenfahrer, Ladenbesitzer, Mütter, die Kinderwagen schoben – und inzwischen sogar Großmütter, die Kinderwagen schoben – an Landkarten, Prozentrechnung und Rechtschreibwettbewerbe, an die ernste, aber nicht bedrückende, ruhige und vernünftige Atmosphäre in ihrer Klasse. Sie selbst dachte selten an das Klassenzimmer, in dem sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte, und hätte es auch nicht mehr besuchen können, selbst wenn sie gewollt hätte, denn das alte Gebäude war vor fünf Jahren abgerissen worden, und an seiner Stelle hatte man eine neue niedrige, wenig beeindruckende, pastellfarbene Schule errichtet; aber in der Vorstellung dieser Menschen trug sie es für immer mit sich herum, und sie kamen nie auf den Gedanken, in ihr noch etwas anderes zu sehen. Das Mrs. vor ihrem Namen war so leer wie ein Höflichkeitstitel.
Bobby, ihr Sohn, war vor dem Krieg umgekommen, bei einem Autounfall im Inneren von British Columbia. Davor hatte er Zeit gefunden, zu heiraten und ein kleines Mädchen zu zeugen. Das war Jeanette. Jeanettes Mutter, die Dorothy bis heute nicht kennengelernt hatte, war nach Vancouver gezogen, hatte nach zwei Jahren wieder geheiratet und eine neue, kinderreiche Familie gegründet. Als Jeanette vierzehn Jahre alt war, kam sie zum ersten Mal mit dem Zug nach Osten, um einen Sommermonat bei ihrer Großmutter zu verbringen. Danach kam sie noch einige Jahre lang jeden Sommer, wobei sich Dorothy und der Stiefvater die Kosten teilten. Dorothy wechselte Briefe mit ihm, nicht mit der Mutter, und er erklärte, dass es böses Blut zwischen dem Mädchen und ihrer Mutter und den vielen Kindern ihrer Mutter gab; es sei gut, wenn sie einmal Ferien voneinander bekämen. Er schien ein vernünftiger Mann zu sein. Inzwischen war auch er tot, und Jeanette hatte offenbar kaum noch Kontakt zu ihrer Mutter und ihren Stiefgeschwistern.
Aber sie besuchte weiterhin Dorothy, und nachdem Viola eingezogen war, Dorothy und Viola. Sie hatte Stipendien gewonnen, die sie aufs College gebracht hatten. Sie studierte weiter, um ihren M.A. zu machen. Dann ihren Ph. D. Sie blieb endgültig am College und unterrichtete. Sie reiste. Ihre Besuche dauerten nie länger als eine Woche und manchmal nur drei oder vier Tage. Sie musste Freunde aufsuchen, hatte Verabredungen getroffen. Dorothy nahm an, dass sie sich langweilte.
Als sie zum ersten Mal zu Besuch kam, als junges Mädchen, waren Jeanettes Haare kurz und braun. Später waren sie blond. In einem Jahr erschien sie, die Haare aufgebläht, so dass sie aussahen wie ein Haufen Schaum auf ihrem Kopf. In jener Zeit malte sie sich die Augenlider bis hoch zu den Augenbrauen blau an, sie trug Futteralkleider mit Mustern in orange und violett, gelb und scharlachrot. Ihr modischer, provokanter Stil war, nach ihrer introvertierten Unscheinbarkeit als junges Mädchen, eine Überraschung. Aber ihr derzeitiges Aussehen war noch überraschender. Sie hatte sich die Haare lang wachsen lassen und trug sie entweder zu einem Zopf geflochten auf dem Rücken oder offen, bleich und kraus. Sie trug Jeans, eine Bauernbluse und ein Schmucksortiment aus Holzperlen, Glasperlen und Metall. Meistens keine Schuhe. Auch trug sie kleine, kindliche Kleidchen aus bedruckter Baumwolle, kurz wie Spielhöschen, die ihren Rücken frei gaben und enthüllten, dass sie keinen Büstenhalter trug. Nicht, dass dafür eine Notwendigkeit bestanden hätte. Sie war eine Frau um die dreißig mit der Figur eines elfjährigen Kindes.
»Versucht sie, ein Hippie zu sein, was meinst du?«, fragte Viola sanft. »Die müssen das doch komisch finden, wenn sie unterrichtet.« Viola beherrschte es wunderbar, jemandem ins Gesicht zu lächeln und dabei ein Messer in den Rücken zu stoßen. Ihr Gesellschaftsleben als Bankiersfrau
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