Was ich dir schon immer sagen wollte
hatte sie darin geschult. Ihre Stichelei richtete sich eigentlich gegen Dorothy, denn Jeanette war Dorothys Enkelin. Sowohl Dorothy als auch Viola waren recht zufrieden mit dem Arrangement, zusammenzuleben. Es sparte Geld und sorgte für Gesellschaft wie auch für Hilfe bei einem Unfall oder einer Erkrankung. Sie waren einander ein Rückhalt, wie es streitsüchtige Kinder sind oder lange verheiratete, anscheinend nicht zusammenpassende Paare, wobei der Rückhalt so unerklärlich und so tief verborgen war, dass die Oberfläche – das, was sie zu empfinden meinten – hauptsächlich aus Argwohn, Reizbarkeit und taktischem Verhalten bestand.
»So kleiden sich heutzutage die meisten am College«, sagte Dorothy.
»Auch die Dozenten?«
»Da besteht kein Unterschied.«
»Ich möchte mal wissen, ob sie je heiraten wird«, bemerkte Viola keineswegs zufällig.
Dorothy hatte in Illustrierten Fotos von diesem neuen Typ Erwachsener gesehen, die ihr Erwachsensein abgelegt zu haben schienen. Jeanette war die erste dieser Sorte, die sie von Nahem und leibhaftig sah. Früher hatten halbwüchsige Jungen und Mädchen auszusehen versucht wie erwachsene Männer und Frauen, oft mit lächerlichem Ergebnis. Jetzt waren es erwachsene Männer und Frauen, die auszusehen versuchten wie Teenager, vermutlich, bis sie an der Schwelle des Greisenalters aufwachten. Es war seltsam, in Jeanettes Gesicht das Kind bereits der alten Frau begegnen zu sehen. In einem Augenblick sah sie jünger aus als vor zehn Jahren, ihr Gesicht blass ohne Make-up, der Mund breit und verschlossen. Sie sah frisch aus, sauber, verträumt und selbstvergessen. Im nächsten, mit einem Wechsel des Lichts oder der Laune oder der Körperchemie, zeigte sich dasselbe Gesicht zerschlagen, bläulich, scharf, die Haut unter den Augen mehr als nur ein wenig runzelig. Sehr viel war einfach übersprungen worden.
Von Dorothys Platz auf der Veranda sah die Straße noch heißer und heruntergekommener aus als in jedem früheren Sommer. Das lag daran, dass die Bäume verschwunden waren. Im letzten Herbst waren Männer im Auftrag der Stadtverwaltung gekommen und hatten alle Ulmen gefällt, diese hohen, alten, tiefen Schatten spendenden Bäume, deren Zweige die Fenster im Obergeschoss vieler Häuser verdunkelten und streiften und im Oktober die Rasenflächen mit Laub zuschütteten. Die Bäume waren alle krank, manche schon halb abgestorben, und mussten gefällt werden, bevor sie durch die Winterstürme zu einer Gefahr wurden. Im Winter war nicht zu merken, wie sehr das die Straße verändert hatte, da die Bäume dann nicht das Wichtigste auf der Straße waren, sondern die Schneeberge. Aber jetzt fiel Dorothy der große Unterschied auf. Die dichten, herabhängenden Zweige hatten die Häuser voneinander isoliert und die Gärten größer wirken lassen; sie hatten auf dem geflickten, schmalen Bürgersteig Licht und Schatten dahinströmen lassen und ihn in einen Fluss verwandelt.
Jeanette hatte sofort eine Klage angestimmt.
»Die Bäume!«, rief sie aus, sowie sie aus ihrem kleinen, cremeweißen ausländischen Auto gestiegen war. »Die schönen Bäume! Wer hat sie gefällt?«
»Die Stadtverwaltung«, antwortete Dorothy.
»Das sieht denen ähnlich.«
»Ihnen blieb keine Wahl«, sagte Dorothy und tauschte mit ihrer Enkeltochter einen trockenen Kuss, eine angedeutete Umarmung. »Es war das Ulmensterben.«
»Dasselbe, was überall passiert«, fiel Jeanette ihr ins Wort und hörte kaum zu. »Das ist alles Teil derselben Zerstörung. Das ganze Land verwandelt sich in eine Müllhalde.«
Dorothy konnte nicht zustimmen. Sie konnte nicht für das Land sprechen, aber diese Stadt verwandelte sich kaum in eine Müllhalde. Der Bürgerverein hatte sogar vor Kurzem eine verwilderte Brache am Fluss trocken gelegt, gerodet und in einen sehr hübschen Park verwandelt, etwas, was der Stadt in ihren gesamten hundert Jahren bislang gefehlt hatte. Sie wusste, dass das Ulmensterben im Laufe des letzten Jahrhunderts alle Ulmen in Europa vernichtet hatte und seit fünfzig Jahren auf diesem Kontinent auf dem Vormarsch war. Die Wissenschaftler hatten weiß Gott hart genug daran gearbeitet, ein Heilmittel zu finden. Sie fühlte sich gezwungen, auf all das hinzuweisen. Jeanette lächelte matt, ja, aber du weißt nicht, was passiert, und zwar überall, die Technologie und der Fortschritt zerstören die Lebensqualität.
Du meine Güte, dachte Dorothy; sie hatte vergessen, wie schwarz Jeanette immer sah und wie
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