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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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durcheinander, also ging sie jeden Nachmittag nach oben und streckte sich für ihr Nickerchen aus. Manchmal malte sie sich aus, wie Jeanette unten im Wohnzimmer saß und ein Buch las oder draußen auf der Veranda auf der Hollywoodschaukel lag und sich mit einem Fuß hin und wieder von den Bodenbrettern abstieß, damit die Schaukel in Bewegung blieb, und sie fragte sich, ob das Kind glücklich war, ob sie mehr für die Kleine tun müsste – sie zum neuen Schwimmbad bringen, sie zum Tennisunterricht anmelden. Dann fiel ihr ein, dass Jeanette zu groß war, um irgendwohin gebracht zu werden, und wenn sie Tennisunterricht haben wollte, würde sie bestimmt darum bitten. Meistens wollte Jeanette einfach lesen. Was genau das war, was Dorothy selbst gerne getan hatte, als sie jung war, und immer noch gerne tat. Es kam beiden ganz natürlich vor, bei den Mahlzeiten zusammenzusitzen, jede mit einem Buch vor der Nase. Jetzt schien Jeanette sehr wenig zu lesen. Vielleicht hatte ihr Studium es ihr verleidet.
    Dorothy war damals weniger neugierig. Im Klassenzimmer wollte sie immer nur wissen, ob ihre Schüler die Grundsätze der Arithmetik und der Rechtschreibung begriffen hatten, die Fakten der Geschichte, der Naturwissenschaften und der Erdkunde, die sie ihnen beibringen musste. Sie sah in Jeanette ein schüchternes, ernsthaftes Mädchen, ein wenig älter als ihre Schüler. Wissbegierig war das Wort, mit dem sie sie beschrieben hätte, ein altmodisches Wort. Sie glaubte zu der Zeit, ohne sich kundig machen oder darüber nachdenken zu müssen, dass Jeanette auf wichtige Art eine Fortsetzung von ihr selbst war. Davon war nichts mehr zu merken; die Verbindung war entweder abgebrochen oder unsichtbar geworden. Dorothy blickte eine Weile lang aus ihrem Schlafzimmerfenster auf den dürren braunen Körper ihrer Enkelin hinunter wie zu einer Hieroglyphe auf ihrem Rasen.

    »Und auf der M1 …«, sagte Blair King, um das Gespräch voranzutreiben, als er auf der Veranda saß und Gin trank. Er richtete sich an Jeanette. Dorothy folgte der Unterhaltung aufmerksam, aber nicht entspannt.
    »Ach, die M1! Das war die schlimmste Erfahrung meines Lebens, im Nebel nach London fahren, und die rasen da mit sechzig Sachen durch den Nebel, man kann nicht langsam fahren, dichter Nebel, und man kann buchstäblich keine zehn Fuß weit sehen. Wir hatten gerade einen Campingwagen gemietet, und ich war gar nicht gewohnt, so ein Ding zu fahren, und wir sind in einen dieser Kreisel geraten und kamen nicht mehr raus. Wir konnten buchstäblich nicht sehen, wo wir abbiegen mussten, und sind ewig im Kreis gefahren, es war wie ein sehr symbolisches Studentenspiel.«
    Wusste Blair King, was sie meinte? Anscheinend ja. Er sah ihr ins Gesicht und murmelte ermutigend. Dorothy hörte zum ersten Mal von dem Campingwagen oder dem »wir« oder auch der M1. Zu ihrer Großmutter und Viola hatte Jeanette nicht viel mehr über Europa gesagt, als dass die meisten Orte von Touristen überlaufen waren, die Häuser in Griechenland im Winter feuchtkalt, und dass aus Athen antransportierter Tiefkühlfisch weniger kostete als der von den Leuten im Dorf gefangene Fisch. Sie hatte einige Dinge beschrieben, die sie gegessen hatten, bis Viola sagte, ihr werde übel.
    War der andere Teil von dem »wir« ein Mann oder eine Frau? Dorothy sah Viola an, dass sie sich diese Frage stellte.
    Blair King und seine Frau hatten vor drei Jahren sechs Monate in Europa verbracht. Er gestattete ihnen nicht, sie zu vergessen. Nancy und ich. Nancy ist in der Schweiz immer gefahren. Nancy liebte Portugal, war aber von Spanien weniger begeistert. Nancy gefiel die portugiesische Art des Stierkampfs besser. Viola warf gelegentlich etwas ein über die drei Wochen, die sie mit ihrem Mann 1956 in Großbritannien verbracht hatte. Dorothy saß da, hörte zu und nippte an ihrem Drink, dessen Geschmack sie nicht mochte, obwohl Jeanette versprochen hatte, sparsam mit dem Gin zu sein. Sie konnte sich wirklich nicht beklagen, selbst wenn sie Mühe gehabt hätte, der Unterhaltung zu folgen. Darauf hatte sie gebaut – dass Blair King sich als jemand erweisen würde, den Jeanette eher gewohnt war, mit dem sie leichter reden konnte, und dass sie selbst, wenn sie diesem Gespräch zuhörte, einen besseren Eindruck als bisher davon gewinnen konnte, wie Jeanette nun eigentlich war. Also saß sie da und konzentrierte sich, wobei sie sich auf nicht viel mehr zu konzentrieren brauchte als den Klang der Stimmen, denn es war

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