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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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dunkel auf der Veranda. Sollen wir Licht machen, hatte Dorothy gefragt, und Jeanette hatte ausgerufen, nein, nein, dann sitzen wir wie in einer kleinen heißen Kiste, wenn all die Viecher gegen das Gitter fliegen.
    »Es macht Ihnen doch nichts aus, im Dunkeln zu sitzen?«, fragte sie Blair King, und Dorothy fiel etwas in ihrem Tonfall auf – war er schelmisch, respektvoll, abschätzig? –, das sie sich für weitere Betrachtungen aufhob.
    Sie redeten über Essen und Trinken und Krankheit und Medizin und einen sonderbaren Arzt auf Kreta, der annahm, sagte Jeanette, dass alle ausländischen Frauen, die ihn konsultierten, für eine Abtreibung gekommen waren, so dass er nur mit größter Mühe dazu überredet werden konnte, eine Halsentzündung zu behandeln. Blair King erzählte von einem Arzt in Spanien, der Nancy gegen ihre Verdauungsprobleme ein derart explosives Abführmittel gegeben hatte, dass sie sich zwei Stunden später in der Alhambra verzweifelt zusammenkrümmte.
    »Das bleibt immer Nancys Erinnerung an Spanien. Da sind wir also an diesem unglaublich schönen Ort, von dem wir so viele Bilder gesehen haben, und es war einer der Orte, auf den sich Nancy am meisten gefreut hatte, und wir können nur an eines denken – wo ist die Damentoilette?«
    »Ah, unsere niederen Bedürfnisse«, sagte Jeanette mit gespielter Feierlichkeit. »Unsere niederen Bedürfnisse sind so lästig. Sie werden so wichtig. Ich erinnere mich an meine ersten Bauchkrämpfe. Auf dem Schiff nach Griechenland.«
    So reden also Männer und Frauen heutzutage miteinander? Das dachte Viola, Dorothy sah es ihr an. Und weiter: Kein Wunder, dass sie nicht verheiratet ist.
    »Und für Nancy natürlich. Nancy legt Wert auf Würde. Sie kennen sie nicht. Sie ist durchaus kein Snob, aber sie ist – na ja, ich hielt sie immer für ein typisches Mädchen einer Studentinnenverbindung.«
    »Ah«, sagte Jeanette und mischte Schmeichelei derart mit leiser Verachtung, dass Blair King, der weiter über seine Frau redete, wahrscheinlich gar nichts davon merkte. Worauf war Jeanette aus? War das ein Flirt, eine neue Variante davon? Obwohl Jeanette sich so lebhaft unterhielt, hatte sie etwas Stilles an sich, nichts Spielerisches, sondern etwas Fügsames, fast Verlorenes.
    Ihr Gespräch war von Ärzten zu Orten gelangt, an denen Leute bis aufs Hemd ausgeraubt wurden, und anderen, wo man ein unverschlossenes, vollgepacktes Auto tagelang sicher auf der Straße stehen lassen konnte. »In Nordafrika ist mir alles gestohlen worden«, sagte Jeanette. »Alles, obwohl der Campingwagen abgeschlossen war. Da war ich schon allein, wir hatten uns getrennt, weshalb es mir auch nicht gut ging …« Es war also ein Mann, dachte Dorothy, musste sich aber sofort korrigieren und denken, es sei denn, es war eine Frau und sie waren  … Manchmal wünschte sie, mit der Welt nicht durch all das, was sie las, so mitgehalten zu haben.
    »Das war in Marrakesch«, sagte Jeanette. »Da ist mir alles gestohlen worden, alles, entzückende Sachen – marokkanische Kleider, Stoff, den ich für Freundinnen gekauft hatte, Schmuck – natürlich auch mein Fotoapparat und alles, was ich dabeihatte. Ich saß einfach ganz alleine in meinem Campingwagen und habe geweint. Und dann kamen zwei Araberjungen – na ja, eigentlich keine Jungen, junge arabische Männer –, aber sie waren sehr schlank, und ich habe sie anfangs für jünger gehalten, als sie waren –, sie kamen vorbei und haben mich weinen gesehen und sind stehen geblieben und haben versucht, mit mir zu reden. Einer sprach ganz gut Englisch. Anfangs mochte ich überhaupt nicht mit ihnen reden, ich hasste alle Araber, ich hasste alle Marokkaner, ich gab ihnen persönlich die Schuld daran, dass mir alles gestohlen worden war. Ich mochte ihnen nicht mal sagen, was passiert war, aber sie redeten weiter auf mich ein – oder zumindest der, der Englisch konnte –, bis ich ziemlich unhöflich alles erzählte, und sie sagten, du musst zur Polizei gehen. Ha, hab ich gesagt, die Polizei hat den Dieben wahrscheinlich dabei zugeschaut. Aber schließlich haben sie mich doch dazu überredet. Sie sind eingestiegen und zeigten mir den Weg. Natürlich schoss mir durch den Kopf, dass sie mich wahrscheinlich überhaupt nicht zur Polizei brachten und dass ich gerade eine Riesendummheit beging, aber es war mir ziemlich egal. Und wissen Sie was? Ich war bereit, dem, der mit mir redete, zu trauen, weil er blaue Augen hatte. Was für ein bodenloses

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