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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Erinnerungen?«
    »Von einem Leben an die vorigen, meinen Sie? Na, Sie wissen ja selbst, der normale Mensch erinnert sich an gar nichts. Aber sobald einem die Augen geöffnet werden, sobald man weiß, was vorgeht, dann fängt man an, sich zu erinnern. Ich selbst weiß mit Sicherheit nur von einem Leben. In Spanien und in Mexiko. Ich war einer der Conquistadoren. Sie kennen die Conquistadoren?«
    »Ja.«
    »Was wirklich komisch war. Ich wusste immer, ich kann reiten. Ich bin nie geritten, wissen Sie, Großstadtkind, wir hatten nie Geld. Hab nie auf einem Pferd gesessen. Trotzdem wusste ich es. Dann, bei einem Treffen vor zwei Jahren, einer Tagung der Rosenkreuzer im Hotel Vancouver, kam jemand auf mich zu, ein älterer Mann aus Kalifornien, und er sagt: Sie waren da. Sie waren einer von ihnen, sagt er. Ich wusste nicht, wovon er redete. In Spanien, sagt er. Wir waren zusammen . Er sagte, ich war einer von denen, die nach Mexiko gingen, und er war einer von denen, die dort blieben. Er kannte mein Gesicht. Und wollen Sie wissen, was das Seltsamste von allem war? Gerade als er sich vorbeugte, um mit mir zu sprechen, hatte ich den Eindruck, dass er einen Hut trug. Dabei trug er keinen. So einen mit Federn. Und ich hatte den Eindruck, dass seine Haare dunkel und lang waren statt grau und kurz. Alles, bevor er auch nur ein Wort davon zu mir sagte. Ist das nicht bemerkenswert?«
    Ja. Bemerkenswert. Aber ich habe schon vorher so einiges gehört. Ich habe von Leuten gehört, die regelmäßig Astralkörper direkt unter der Zimmerdecke herumschweben sehen, von Leuten, die ihren Tagesablauf stets nach der Astrologie richten, die ihren Namen geändert haben und umgezogen sind, damit der Zahlenwert der neuen Buchstaben sie segnet. Das sind so die Ideen, mit denen Menschen auf dieser Welt leben. Und ich kann verstehen, warum.
    »Was wetten Sie, dass Sie auch da waren?«
    »In Spanien?«
    »In Spanien. Das dachte ich, sowie ich Sie gesehen habe. Sie waren eine spanische Edeldame. Sie sind wahrscheinlich auch dageblieben. Das erklärt, was ich sehe. Wenn ich Sie anschaue – und ich möchte Sie nicht kränken, Sie sind eine sehr attraktive Frau –, sehe ich Sie jünger, als Sie jetzt sind. Wahrscheinlich, weil ich Sie in Spanien zurückließ, als Sie erst zwanzig, einundzwanzig waren. Und ich habe Sie in jenem Leben nie wiedergesehen. Sie verübeln mir nicht, dass ich das sage?«
    »Nein. Nein, es ist wirklich sehr angenehm, so gesehen zu werden.«
    »Ich habe immer gewusst, dass es im Leben noch mehr geben muss. Ich bin kein materialistischer Mensch. Nicht von Natur aus. Deshalb bin ich auch nicht besonders erfolgreich. Ich bin Immobilienmakler. Aber ich setze mich dafür wohl nicht so ein, wie man sich einsetzen muss, um erfolgreich zu sein. Kommt nicht drauf an. Ich habe niemanden als mich selbst.«
    Ich auch nicht. Ich habe auch niemanden als mich selbst. Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, was ich mit diesem Mann anfangen soll, außer aus ihm eine Geschichte für Hugh zu machen, eine Kuriosität, einen Witz für Hugh. Hugh hat es gern, wenn das Leben so gesehen wird, er schätzt trockene Formulierungen. Nackte Gefühle kann er nicht ertragen, ebenso wenig wie nacktes Fleisch.
    »Liebst du mich, liebst du Margaret, liebst du uns beide?«
    »Ich weiß nicht.«
    Er las gerade eine Illustrierte. Immer, wenn ich mit ihm rede, liest er. Er sagte diese Worte mit einer gelangweilten, erschöpften, kaum hörbaren Stimme. Blut aus einem Stein.
    »Sollen wir uns scheiden lassen, willst du sie heiraten?«
    »Ich weiß nicht.«
    Margaret, auf das Thema angesprochen, gelang es, das Gespräch auf ein paar Keramikbecher abzulenken, die sie gerade für uns gekauft hatte, als Geschenk, und zu hoffen, dass ich sie in meiner Wut nicht wegwerfen würde, denn sie, Margaret, würde sie nützlich finden, sollte sie je einziehen. Hugh lächelte, als er das hörte. Solange wir Witze machen, können wir alle überleben. Ich bin da nicht sicher.
    Ich habe keine Schwierigkeiten, zu entscheiden, welches der glücklichste Augenblick in unserer Ehe war. Das war in Northern Michigan, auf einer Reise, als die Kinder noch klein waren. Ein armseliger Rummel unter grauem Himmel. Die Kinder fuhren Karussell. Wir schlenderten zusammen fort und blieben vor einem Käfig mit einem Huhn darin stehen. Ein Schild besagte, dass dieses Huhn Klavier spielen konnte. Ich sagte, ich wollte es Klavier spielen hören, und Hugh steckte ein Zehn-Cent-Stück

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