Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
Körper war voller blauer Flecken von ihren Knien und Ellbogen und Füßen. Damals dachte ich, es wäre eine Wohltat, eine alleinreisende Frau zu sein und nach dem Essen eine Tasse Kaffee trinken und aus dem Fenster schauen zu können, in den Salonwagen gehen und etwas trinken zu können. Jetzt fährt eine meiner Töchter per Anhalter durch Europa, und die andere ist Betreuerin in einem Ferienlager für behinderte Kinder, und die ganze Zeit der Fürsorge und des Durcheinanders, die damals kein Ende zu nehmen schien, scheint es heute nie gegeben zu haben.
    Plötzlich sind wir, ohne dass es mir aufgefallen wäre, ins Gebirge gelangt. Ich bestelle mir einen Gin Tonic. Das Glas fängt das Sonnenlicht ein und wirft einen Lichtkreis auf den weißen Untersetzer. Dadurch wirkt der Gin Tonic auf mich rein und stärkend, wie Gebirgsquellwasser. Ich trinke ihn durstig.
    Aus dem Salonwagen führt eine kleine Treppe hinauf in das Panoramaabteil, wo Fahrgäste zweifellos seit Calgary gesessen und auf die Berge gewartet haben. Nachzügler, die auf freie Plätze hoffen, steigen ein Stück weit die Treppe hinauf, recken die Hälse und kommen missmutig wieder herunter.
    »Die da oben haben vor, die ganze Woche lang sitzen zu bleiben«, sagt eine dicke Frau mit einem Turban und wendet sich dabei um, als redete sie zu einer Prozession von Enkelkindern. Ihr massiger Körper füllt die ganze Breite der Treppe. Viele von uns lächeln, als würden uns der Umfang, die Lautstärke und die unschuldige Wichtigtuerei der alten Frau dargeboten, um uns Trost zu spenden.
    Ein Mann, der allein sitzt, weiter vorn im Wagen und mit dem Rücken zum Fenster, schaut mich lächelnd an. Sein Gesicht erinnert mich an das Gesicht eines Filmstars aus einer vergangenen Ära. Altmodisches gutes Aussehen, willentlicher und bewusster, jedoch leicht zu frustrierender Charme. Dana Andrews. So jemand. Ich habe einen unangenehmen Eindruck von senffarbener Kleidung.
    Er kommt nicht, um sich neben mich zu setzen, schaut aber weiter hin und wieder zu mir herüber. Als ich aufstehe und den Wagen verlasse, überlege ich, ob er mir folgen wird. Was, wenn er es tut? Ich habe keine Zeit für ihn, nicht jetzt, ich kann keine Aufmerksamkeit für ihn erübrigen. Früher war ich bereit für fast jeden Mann. Im Teenageralter und auch später, als junge Ehefrau. Jeder Mann, der mich in einer Menschenmenge ansah, jeder Lehrer, der im Klassenzimmer den Blick auf mir ruhen ließ, ein Fremder auf einer Party, sie alle konnten irgendwann, wenn ich allein war, in den Liebhaber verwandelt werden, den ich immer suchte – jemand, der leidenschaftlich war, intelligent, brutal und liebenswürdig –, und meinen Partner spielen in jenen einfachen, befriedigenden, explosiven Szenen, die jeder kennt. Später, nachdem ich ein paar Jahre verheiratet war, ergriff ich Maßnahmen, um meinen Phantasievorstellungen Gestalt zu verleihen. Auf Partys hielt ich mit meinem Push-up-BH, meinem wuscheligen italienischen Haarschnitt und meinem schwarzen Kleid mit den Spaghettiträgern Ausschau nach einem Mann, der bereit war, sich in mich zu verlieben und mich in eine vulkanische Affäre hineinzuziehen. Ich wurde auch fündig, mehr oder weniger. Sehen Sie, es ist nicht so einfach, nicht so ein klarer Fall, wie mein Gram und mein sicheres Gefühl, betrogen zu sein, jetzt jeden annehmen lassen würden. Nein. Männer haben Male auf mir hinterlassen, aber ich brauchte mir keine Sorgen darum zu machen, sie vor Hugh zu verbergen, denn es gibt Teile meines Körpers, die er sich noch nie angesehen hat. Ich bin nicht nur belogen worden, ich habe auch gelogen. Männer haben gierigen Heißhunger auf meine Brustwarzen, meine Blinddarmnarbe und die Leberflecke auf meinem Rücken demonstriert und haben zu mir gesagt, wie es ihnen auch anstand: »Jetzt mach daraus keine große Sache«, und sogar: »Ich liebe meine Frau wirklich.« Nach einer Weile gab ich das alles auf und ging heimlich zu einem Psychiater, der mir weismachte, ich hätte nur versucht, Hughs Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er schlug vor, ich sollte sie stattdessen mit Liebenswürdigkeit, Raffinesse und sexueller Attraktivität im häuslichen Alltag zurückgewinnen. Ich hatte ihm weder etwas entgegenzusetzen, noch konnte ich seinen Optimismus teilen. Er schien mir keinen Begriff von Hughs Charakter zu haben und anzunehmen, dass bestimmte Ablehnungen nur das Ergebnis davon waren, nicht richtig um etwas gebeten worden zu sein. Für mich hingegen waren sie

Weitere Kostenlose Bücher