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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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mahlten ihren Kaffee selbst. Sie besorgten sich zwei oder drei verschiedene Sorten in einem Importgeschäft in der Innenstadt und bereiteten ihre eigene Mischung zu.
    »Ich musste sowieso aufstehen«, sagte June. »Es gibt unglaublich viel zu tun.«
    »Ich kann doch helfen.«
    »Hilf mir jetzt, indem du deinen Kaffee trinkst und dich nicht vom Fleck rührst, bis ich ein paar von der donnernden Herde aus dem Weg habe.«
    Sie meinte die Kinder, so nannte sie sie immer. Auch jetzt. Im gewohnt fröhlichen, beiläufigen Tonfall. Sie war schon angezogen, trug eine orange Hose und eine bestickte mexikanische Bluse aus ungebleichter Baumwolle. Sie sah ganz wie immer aus, die aschblonden Haare hinten mit einem Gummiband zusammengebunden, lange, strähnige Ponys fielen ihr in die Stirn. Derselbe Ausdruck vibrierender Tatkraft, Herrschsucht, Geschäftigkeit, ebenso rührend wie nervtötend. Eine Ehefrau mit einer Mission. Ihr Teint von gesunder Röte, mit rauer Haut an Hals und Wangen. Der Verlust hatte ihr, wenn überhaupt, mehr Farbe verliehen.
    Eileen sah ein, dass es naiv von ihr gewesen war, eine Veränderung zu erwarten. Sie hatte gedacht, Junes Körper könnte vor Kummer schlaffer geworden sein, ihre Stimme unsicherer oder kaum hörbar. Aber gestern Abend, als sie sich auf dem Flughafen umarmten, spürte sie den Körper ihrer Schwester wie immer von seiner ureigenen Energie summen; sie hörte Junes Stimme ihre beginnenden Trostworte mit gereiztem Nachdruck, fast triumphierend durchschneiden.
    »Es ist so windig, hattest du einen schrecklichen Flug?«

    June schickte die jüngeren Kinder in die Schule. June und Ewart hatten sieben Kinder – das heißt, wenn man Douglas mitzählte. Die ersten fünf waren Jungen. Dann hatten sie zwei Mädchen indianischer oder teilweise indianischer Abstammung adoptiert. Das jüngste ging noch in den Kindergarten. Douglas war siebzehn gewesen.
    Eileen hörte June ins Telefon sprechen.
    »Ich möchte nicht, dass sie ihre Gefühle unterdrücken müssen, aber ich will auch nicht, dass ihre Gefühle künstlich stimuliert werden. Verstehen Sie, was ich meine? Ja. Das ist ihre normale Umgebung. Ich glaube, das ist für sie besser. Aber ich möchte ihnen die Gelegenheit bieten, ihrer Trauer Ausdruck zu geben. Wenn sie ihr Ausdruck geben wollen. Ja. Genau. Ja. Danke. Ich danke Ihnen.«
    Dann telefonierte sie wegen einer Kaffeemaschine.
    »Ich wusste gleich, ich hätte das Fünfzig-Tassen-Modell kaufen sollen und nicht das für dreißig. Das passiert mir immer wieder. Oh, nein. Nein, das steht alles fest. Ja, das wäre mir sehr lieb. Tausend Dank.«
    Danach rief sie mehrere Leute an und fragte sie, ob sie Mitfahrgelegenheiten zur Beerdigung hatten oder zur Gedenkfeier, wie es hieß. Sie rief andere Leute an und fragte, ob sie etwas dagegen hätten, Mitfahrgelegenheiten zur Verfügung zu stellen für Leute, die Schwierigkeiten hatten; dann rief sie wieder die ersten Leute an und sagte ihnen, wann und wo sie abgeholt werden konnten. Eileen war inzwischen aufgestanden, zog sich an, ging immer wieder ins Badezimmer. Aus dem Freizeitraum unten hörte sie Rockmusik, ungewöhnlich, vielleicht rücksichtsvoll leise. Die anderen Kinder mussten dort unten sein. Sie fragte sich, wo Ewart war. Sie hatte den Eindruck, dass nicht alle der Verabredungen, die June vermittelte, wirklich notwendig waren, oder dass zumindest nicht June sie alle vermitteln musste. Bestimmt hätten die Leute sich ihre Fahrgelegenheiten selbst organisiert. Sie merkte, dass sie sogar den Ton von Junes Stimme am Telefon nicht ausstehen konnte. Hallo, guten Morgen! Hier ist June! Solche fröhliche, muntere, sachliche Stimme, und enthielt nicht gerade diese Heiterkeit eine Forderung, ein lebhaftes Bemühen um Beherrschung? Konnte man sagen, dass June bewundert werden wollte? Nun, warum auch nicht? Wenn es hilft. Alles, wenn es nur hilft.
    Trotzdem missfiel Eileen dieser Ton, er entmutigte sie.
    In der Küche wusch sie ihren Becher und ihren Teller ab. Beide waren das einzige Geschirr, das weit und breit zu sehen war. Um Viertel nach neun Uhr morgens glänzte die Küche wie eine Küche auf einem Reklamefoto. Das Geschirr befand sich natürlich im Geschirrspüler, da steckte alles. Eileen hatte nicht an den Geschirrspüler gedacht. Sie selbst wohnte in einem alten Haus, einem gemieteten Haus in einer anderen Stadt; sie lebte allein, denn sie war geschieden, und ihr einziges Kind, ihre Tochter, tourte durch Europa. Sie wusste gar nicht, wie

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