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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Snobismus waren wie das Prunken mit Kwakiutl-Masken und pockennarbigen Fruchtbarkeitsgöttinnen?
    Ewart kam aus der Garage herein, in Hemd und Arbeitshose. Die Haare waren ihm bis zu den Ohrläppchen gewachsen. »Möchtest du mal meinen japanischen Garten sehen?«, fragte er Eileen. »Ich war gerade draußen und habe ein bisschen nach den Sträuchern geschaut. Wenn sie erst mal loslegen, kann man sich gar nicht an ihnen sattsehen.«
    Seine Stimme klang fröhlich, aber sie nahm in seinem Umfeld einen Geruch nach schlechtem, traurigem, schlaflosem Atem wahr, überdeckt, aber nicht besiegt von Mundwasser.
    »Ja, gern.«
    Sie folgte ihm durch die Garage nach draußen. Es war ein milder, bewölkter Februartag. »Vielleicht kommt noch die Sonne raus«, sagte Ewart. Er bog die nassen Zweige für sie zurück, er warnte sie vor dem rutschigen Abhang auf dem großen Rasen, er war wie immer ein freundlicher und besorgter Gastgeber. Der Reichtum hatte ihn über alle normalen Erfordernisse hinaus höflich, zurückhaltend, zuvorkommend und rätselhaft gemacht. Als June ihn im College kennenlernte – sowohl sie als auch Eileen hatten Stipendien für das College in ihrer Stadt –, schien er keine Freunde zu haben. June nahm ihn unter ihre Fittiche mit demselben hartnäckigen, ermunternden Eifer, mit dem sie sich später um afrikanische Studenten, Rauschgiftsüchtige, Gefängnisinsassen und indianische Kinder kümmerte. Sie nahm ihn mit auf Partys, wo er bald seine Rolle fand als Getränkeeingießer, Gastgeber- und Gastgeberinnenhelfer, Nachbarn- und gelegentlich Polizeibesänftiger, Kopfhalter für Leute, die sich im Badezimmer übergaben, und Kummerkasten für Mädchen, deren Freund gemein zu ihnen gewesen war. June sagte, sie zeige ihm das Leben. Sie hielt ihn für sozial benachteiligt, für behindert, sein Name und sein Geld brandmarkten ihn in ihren Augen ebenso wie Blutschwamm im Gesicht oder ein Klumpfuß. Niemand dachte, dass sie vorhatte, ihn zu heiraten. Sie selbst auch nicht. Sie brauchte eine Weile, um die Möglichkeiten zu erkennen, glaubte Eileen. Sie brachte ihn zwar mit nach Hause, aber das gehörte zu ihrem Programm, ihm das Leben zu zeigen.
    Eileen und June wohnten damals mit ihrer Mutter immer noch im Obergeschoss eines Hauses über einem Herrenfriseur in der Becker Street. Die Zimmer waren dunkel, aber es gab einen gewissen Ausgleich dafür. Einen frischen, seifigen, männlichen Geruch aus dem Friseurladen. Nachts im Vorderzimmer ein rosiges Aufleuchten von dem Café an der Ecke. Ihre Mutter litt an grauem Star in beiden Augen. Sie lag auf dem Sofa – sie war korpulent, auch im Liegen – und äußerte Bedürfnisse. Sie verlangte ein Glas Wasser ums andere, Tabletten, eine Tasse Tee nach der anderen; sie verlangte, dass sie auf- oder zugedeckt wurde, dass ihre Haare gekämmt und geflochten wurden. Sie verlangte auch, dass Radiosender angerufen und für ihren Gebrauch salopper, vulgärer, ungrammatischer Sprache getadelt wurden; sie verlangte, dass im Friseur- und im Lebensmittelladen Beschwerden vorgebracht wurden; sie wünschte, dass alte Freunde oder Bekannte angerufen wurden, Berichte über ihren sich ständig verschlechternden Gesundheitszustand erhielten und gefragt wurden, warum sie sie nicht besucht hatten. June schleppte Ewart an und brachte ihn dazu, sich hinzusetzen und ihr zuzuhören. Durch ihr Studium der Psychologie hatte June versucht, das Problem mit ihrer Mutter zu bewältigen, geradeso, wie Eileen es durch das Studium der englischen Literatur versucht hatte. June war erfolgreicher gewesen. Eileen hatte die Genugtuung, in ihren Büchern ein hohes Aufkommen an verrückten Müttern zu finden, aber es gelang ihr nicht, diese Entdeckung praktisch zu nutzen. June dagegen brachte es fertig, die Mutter ihren Freunden ohne Entschuldigungen vorzustellen, allerdings mit jeder Menge Vor- und Nachbereitung. Sie gab ihnen das Gefühl, bevorzugt zu werden. Ewart musste sich eine lange, melancholische, verworrene und unwahre Geschichte darüber anhören, wie ihre Familie mit Arthur Meighen verwandt war, einem früheren Premierminister von Kanada. June sagte ihm, sie gewähre ihm einen unverstellten Blick auf die Wahnvorstellungen, die bei Menschen mit bestimmten Veranlagungen durch eine ausweglose sozioökonomische Situation hervorgerufen werden. (Sie lernte damals im Eilverfahren die Ausdrucksweise, die ihr für den Rest ihres Lebens gute Dienste leisten sollte.) Eileen konnte nicht umhin, von dieser

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