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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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nicht mehr sehen, habe ich zu Agota gesagt, damals.
    Seine nächtlichen Träume: Er befindet sich in einem Güterzug, es wird laut, kreischend laut, Ketten um seine Hände, so schwer, so groß, als seien sie fürs Vieh, und über ihm standen riesige Männer; fiebrig waren diese Träume, alles darin schmutzig, die Kinder, die Tiere, der Fußboden, die Luft, die Stimmung. Er alleine in einem Waggon, festgebunden an Händen und Füßen. Er, eingeklemmt in einem winzigen Zwischenraum, er will sich durch einen Spalt zwischen zwei Holzplatten drängen, draußen Wasser, nur Wasser, dann Menschen im Wasser, die schrien. Nass geschwitzt wachte er neben Agota auf, die auch wach war, weil er geschrien hatte im Traum. Agota, die ihn von hinten umfasste, umarmte, wenn er zitterte, umklammerte, damit er wieder einschlafen konnte. Der Zug fuhr wieder los. Nächteweise der Zug, der Krach, bis es nach sehr vielen Jahren einmal vorbei war. Der Weg nach Deutschland war immer wieder zurückgekehrt. Wie er wirklich hierherkam, das hat sein Gedächtnis jedoch gelöscht. Aber warum er nicht nach Polen reisen wollte, das hatte er so gut wie Agota gewusst. Er hatte Angst gehabt, vor seinen Erinnerungen oder vor der Leere, nämlich dass er gar keine Erinnerungen hatte, außer jenen wenigen, die er ihr immer wieder schon erzählt hatte. Vor dem Gefühl der Schuld. Weil es ihm gut ging. Seine Eltern, Mili, waren tot. Er hatte gewonnen, das größtmögliche Glück im Unglück.
    Ich habe mir Blasen gelaufen im Salzwasser und Sand, mich gefragt, ob meine Haut, als ich ein Kind war, auch so empfindlich war, versuchte mir das Leben vorzustellen von damals, wo es doch nichts gab, keine Fotografien, keine Zeichnungen, gar nichts, nicht einmal einen einzigen Stein. Im Stadtmuseum zwei Postkarten von damals. Und meine Verblüffung über die mangelhafte Erinnerung! So soll das gewesen sein hier? Dass ich das Haus, unser Haus wiedergefunden habe, dass es das Haus überhaupt noch gab, beides war ein Wunder gewesen. Ich habe immer gedacht, man habe das Meer sehen können, in der Ferne, dass es ein weiter Weg war zum Strand, das wusste ich noch, aber so weit! Und dass man das Meer eben nicht sah. Auch damals vermutlich nicht sah. Kapitanska. Das Wort kam mir in den Sinn, beim Gehen am Hang, flog herbei; stimmte das, war das der Straßenname? In den Schuhen haben meine blasigen Füße geschmerzt. Vielleicht war die Temperatur draußen ganz ähnlich gewesen wie heute? Aber er weiß ja nicht einmal genau, wie es draußen ist heute; ein Luftzug durchs Kippfenster ließ nachmittags milde Spätsommerluft hereinwehen, jedenfalls kam ihm das so vor. Oder?
    Es war ein schöner Tag heute, sagt Marita, warm. Sommer im Herbst. Sie lacht.
    So war es auch, sagt er, wahrscheinlich so.
    Ich spazierte mit suchenden Blicken. Übte Kinderschritte beim Gehen, trippelte, tapste, beobachtete Fünfjährige, Sechsjährige, wie kleine Schritte die machten, das musste für mich, als Junge, doch ein Halbtagesmarsch gewesen sein zum Strand, dachte ich, als ich mich meinem Ziel näherte. Niemals konnte es dort gewesen sein. Ich drehte wieder um beim ersten Mal. Ich lebte mit einem Bild von meiner Kindheitsstadt, die noch gar keine Stadt gewesen war; grünes Land, Wald, Hügel, ein paar Villen am Hang, ein paar Häuser, dorfähnlich, der Hafen, der Strand, es war immer Sommer in meinen Erinnerungen. Das Bild von meinem Vater, barfüßig, mit hellen Haaren auf dem Spann des Fußes, dass man sich an so etwas erinnerte, mit langen Hosen und Augen, so leuchtend blau, wie das Meer. Stimmte das denn? Ich zweifelte. Mili im Kinderwagen, oder? Klein auf jeden Fall. Von meiner Mutter: kein Bild aus dieser Zeit. Wo war sie gewesen? Hatten wir Izy schon gehabt, oder erst später? Im Aquarium schoss ich Fotos von kleinen Quallen in Weiß, durchscheinend, leicht und kumulusartig aufgeplustert, die so schwerelos durchs Wasser schwebten, dass mir das Glück heiß in den Kopf schoss. Auch alleine war das Leben weitergegangen, der Bilderstrom hat mich unmittelbarer, ungefilterter erreicht als früher in der Gegenwart von Agota, als ich alles mit ihr geteilt habe. Man muss nur das Schweigen, die stille Bewegung von Worten und Bildern im eigenen Körper aushalten; und manchmal einen Ausfallschritt machen, zwischen all den ruhigen gleichmäßigen, oder nach einem Blitzstart zur nächsten Laterne rennen.
    Sie lacht.
    Manchmal habe ich das gemacht, dann haben Kinder auf der Straße gelacht, und ich auch. Das

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