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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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war eine unerwartete Erfüllung gewesen. Manches wird für immer vorbei sein.
    Er hört die kleine Schwester atmen neben sich, ruhig, gleichmäßig. Sie ist deine Krankenschwester, muss er sich immer wieder sagen: Alles ist sie für ihn, und die eine, die am meisten. Das Wort, so groß nun schon in seinem Kopf. Tochter. Nicht daran denken. Weiter. Das sagt er nicht.
    Dass er die Endlichkeit mit Agotas Tod verstanden hat. Aber die Unbeweglichkeit des Körpers nicht. Das Leben jetzt geschieht im Kopf.
    Hören Sie mir zu?
    Ja.
    Unvermittelt war ich vor dem Haus gewesen, da stand ich in meinem ehemaligen Klassenzimmer, und es sah fast aus wie damals, im ehemaligen Schulhaus meines Vaters. Aber es roch anders. Die Grundschule war eine Kneipe geworden, Bierlokal. Ich habe mich auf einen Stuhl gesetzt, neben mir am Tisch ein Mann in einem speckigen Anzug, der immerzu mit dem Fuß und seinen Händen den Rhythmus der Musik klopfte und dazu summte, sang, irgendetwas, in sich selbst versunken, den Nacken gebeugt, mit hängendem Kopf, vor ihm sein Bier, neben ihm eine Frau mit dünnen Haaren, seine Frau vielleicht, die, wenn er zu laut wurde, etwas zu ihm sagte. Der Mann gab Antwort, die Frau schwieg, der Mann schwieg, sein Fuß fand den Takt wieder, seine Stimme eine Melodie, und wieder und wieder dasselbe. Ich habe sie nicht weiter beachtet. Ich sah das Schulhaus vor mir, keine Vorhänge vor den großen Fenstern, draußen die dichten Bäume, drinnen bei Sonne und kleinem Wind Schatten von sich bewegenden Blättern an der Wand, sich immerzu verändernde Zeichnungen. Das Lehrerpult dort, wo der Tresen stand, sah mich und meinen Freund Rafi am linken Rand des Zimmers, in maximaler Entfernung vom Fenster, erste Reihe. Außenstürmer. Offensiv. Und so eine Erinnerung an juckende Wollstrumpfhosen hat sich eingeschlichen, die ich tragen musste, dicke braune kratzige Strumpfhosen. Viel lieber habe ich den schwarzen Anzug am ersten Schultag getragen, dazu ein Hemd, gebügelt und mit gesteiftem Kragen, und weil ich so einen kurzen Schulweg hatte, der ging nur die Treppe hinunter, bin ich in den vier Schuljahren immer am ersten Tag nach den Sommerferien im Anzug an der Hand meiner Mutter einmal hinübergelaufen zum Lebensmittelgeschäft und dann wieder zurück. Damit man mich sah.
    Er sieht es nicht, aber er weiß es noch. Er war stolz gewesen auf seine schöne Mutter, die sich besonders schön gemacht hatte am ersten Schultag, die Haare toupiert, wie an Sonntagen, und glänzende Strümpfe unterm Rock trug, und wie gerne er sie angefasst hätte, weil sie duftete und ihre Haut so leuchtete, aber das mochte sie nicht, genauso wenig wie küssen. Alles war ihm wieder eingefallen beim Umherschauen in dieser rauchigen Kneipe, dass die Schuhe der Mutter auf den Holzdielen Geräusche machten, jene seines Vaters nur am Sonntag. Der Zeigestock des Vaters, mit dem er manchmal während des Schulunterrichts über die Dielen gestrichen hatte, gleichmäßig wie ein Metronom, wenn er auf eine Antwort wartete, oder unruhig geklopft, damit es still wurde im Raum.
    Die Musik war ausgegangen in der Kneipe, als ich dort stand, niemand war aufgestanden, um den Automaten wieder anzuwerfen, nur dies Singen des Mannes war lauter zu hören, er schlug einen Rhythmus zur verstummten Musik. Ich habe Kleingeld aus der Hosentasche gekramt, die Musikbox inspiziert, aber es gab nichts, was ich kannte, ich warf den Zloty trotzdem ein, weil ich den unbegleiteten Gesang des Mannes nicht ertragen konnte, drückte irgendetwas, und wünschte für einen Moment, schneller zu sein als meine eigenen Gedanken. Ihnen davonfahren zu können, wenigstens das Gefühl zu haben, es versuchen zu können. Oder einfach nur auf der einen schnurgeraden Straße die Halbinsel Hela hinauf bis Hel fahren, zum Leuchtturm, hinaufsteigen, aufs Meer zu gucken, hinuntersteigen und mich ganz flach in den Sand legen, warten, bis die ersten Sandkörnchen die Brille bedeckten.
    Und dann ist dieser Mann aufgestanden und hat zu mir gesagt: Znam Ci ę ! Dich kenn ich!
    Sein Blick war dunkel, durchdringend, gewiss. Er wartete.
    Ich schwieg.
    Und er sagte: Doch, du warst schon mal da.
    Und ich sagte: Wer bin ich?
    Und er sagte: Der Junge vom Pastor.
    Der Mann hat den Takt geklopft. Ich bin in die Stadt hinabgelaufen, ins Hotel. Man kann denken, einer ist verrückt, aber man kann auch denken, der erinnert sich an etwas, auch wenn er verrückt ist. Ein Pastor ist von einem Lehrer nicht weit entfernt. Warum habe

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