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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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stößt sie aus, langsam, gleichmäßig, saugt wieder neue Luft an, leiser – zwei –, atmet aus, hält inne, atmet ein, drei, aus – ein, vier, aus – ein, bis neunzehn. Die Atemzüge der kleinen Schwester hinken den seinen hinterher.
    Vielleicht wünschte ich bei Onkel Stani in der Mansarde ja auch, dass der Tod zu mir kommt, weil er mich so lange verschont hat, niemand anderen, nur mich. Vater tot, Mutter tot, Mili. Izy. Es wäre nur gerecht gewesen, wenn ich auch gestorben wäre.
    Es war doch nicht Ihre Schuld.
    Was?
    Dass Ihre Familie starb.
    Er zuckt mit den Schultern. Er weiß dazu immer noch nichts zu sagen. »Nein«, müsste er sagen, weil er weiß, es ist so. »Doch«, möchte er sagen, weil er immer noch den sechzehnjährigen Jungen fühlt, der sich quält, weil er sich hat erwischen lassen. Hätte er sich nicht erwischen lassen, hätte er die Mutter und Mili beschützen können. »Unsinn« hatte Agota dazu so oft sagen können, wie sie wollte.
    Dass Sie lebten. Sagt die kleine Schwester. Dass Sie noch leben, ist nicht Ihre Schuld.
    Er lacht. Paradox klingt das.
    Der Schlaf ist der Tod, dachte ich in der Mansarde. Ich begann zu lesen, als Onkel Stani mir ein Buch hinlegte. Aus Misstrauen wollte ich zuerst nicht. Bücher von Stani waren wie Suppe von Stani, wie Kleider von Stani. Ich nahm das Nötigste und verweigerte das meiste. Wochenlang. Lesen schützte, vor dem Tod, vor schlechten Gedanken, vor dem Schlaf, vor schlimmen Träumen, vor Onkel Stani. Schließlich nahm ich irgendeines der Bücher, las laut, und noch einmal, bis es schön klang, bis es gut klang, bis ich ungefähr verstand, was ich las. Ich las lange, ohne dass mich, was ich las, berührte, las gegen den Schlaf an, überlas ihn hartnäckig, bis der Schlaf siegte. Dann kamen die Träume wieder. Ich betrat ein Haus und merkte plötzlich, ich gehe auf einer rauen Zunge, ich schaue nach oben, ich sehe die Gaumenstaffeln, ich sehe Licht zwischen den Gaumenstaffeln, ich sehe ein Haus ohne Kopf, und Paula steht mit Leo draußen, sie sehen mich, es ist gefährlich, ich rufe, ich sehe plötzlich rohes Fleisch, wie es herabhängt. Izy, Izy ist das. Ich lernte Deutsch beim Lesen. Ich lernte, dass man seine Angst in einer Geschichte lassen konnte. Ich las laut, weil ich mich hören wollte, damit ich wusste, ich bin noch da, ich bin nicht tot. Damit es besser wurde mit der Angst. Atmen reichte nicht. Manchmal musste ich sogar mein Handgelenk nehmen, den Puls fühlen. Schwach schien er mir: Der Tod stand bereit. Ich betete das Vaterunser, obwohl es Gott nicht mehr gab. Für mich. Wer redet, lebt. Paula war so gläubig gewesen, das ganze Dorf, nahezu ganz Aichhardt war so gewesen, aber trotzdem nicht menschenfreundlich. Nur Leo, der Alte, war es.
    Warum erlaubt ein Gott so menschenverachtende Dinge, so viel Bösartigkeit, Grausamkeit, habe ich Paula immer wieder gefragt. Die klassische Frage für einen Zwanzigjährigen.
    Was hat sie gesagt? Die kleine Schwester fragt es zu laut, sagt es so, dass er hört, sie will Paula verstehen oder etwas gegen sie in der Hand haben. Ihr Urteil ist noch nicht gefallen, hört er.
    Sie hat nichts dazu gesagt, sie hat zu den meisten Dingen nichts gesagt.
    Warum haben Sie sie dann geliebt?
    Man liebt Menschen doch nicht, weil sie sprechen. Nicht nur.
    Aber auch. Sagt die kleine Schwester.
    Er kennt die Antwort nicht. Er kann sagen, was er an Agota geliebt hat, er kann dreißig Jahre Revue passieren lassen und sagen: Sie funkelte. Sie war hellwach und klug, störrisch manchmal und zweiflerisch und anspruchsvoll, aber herzlich und weich; manchmal zu weich, zu empfindlich, zu durchlässig. Und dann anstrengend. Am meisten für sich selbst. Für ihn, Bili ń ski, aber auch. Aber er liebte sie, genau so.
    Wer Paula war, weiß ich nicht.
    Die kleine Schwester nickt.
    Wissen Sie, was Grausamkeit ist?
    Ihre Augen werden dunkel, war das die falsche Frage?, er sieht, sie wird wütend, er will einlenken, sagt: Haben Sie jemals richtige Grausamkeit erlebt.
    Glauben Sie, Sie haben die Grausamkeit gepachtet? Sagt sie. Wissen Sie, wo wir hier sind? Wo ich hier arbeite?
    Er schüttelt den Kopf. Das meine ich nicht.
    Ich meine das aber! Was glauben Sie eigentlich, was hier für Menschen sterben müssen, wie schnell. Sie reißt sich den Haargummi vom Pferdeschwanz, schüttelt ihre Mähne.
    Wie ein nasser Hund, denkt er.
    Aber ich …, sagt Bili ń ski. Und unterbricht sich auch. Ich versteh das, sagt er.
    Sie verstehen das nicht. Sagt die

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