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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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so schlecht mit der Repatriierung.
    Was? Fragt die kleine Schwester.
    Er muss schmunzeln. Das hat Agota auch gefragt, sagt er. Rückführung war damit gemeint, in die Heimatländer.
    Was will ich denn dort? Habe ich zu Breuer gesagt, ich habe da niemanden mehr. Außerdem sind da jetzt die Russen, das wissen doch alle, das wissen Sie auch.
    Bist ja selbst ein halber. Hat Breuer gesagt.
    Und da musste ich ihn sehr erschrocken angeschaut haben.
    Es tut mir leid, Junge. Hat er gesagt. Junge!
    Es tat ihm nicht leid, sicher nicht. Deutschland den Deutschen. So einer war das. Der Polack sollte hier weg, und lieber machte Breuer mich zum Russen, als zu akzeptieren, dass ich nur ein halber Pole war.
    Du mit deiner Bärenkraft, Bili ń ski, du bist keiner für die Amtsstube.
    Dass ich Aufräumarbeiten machen könne.
    Aufräumarbeiten! Siehst du irgendwo etwas?
    Es war aussichtslos gewesen. Überall hätte es zu tun gegeben. Geh zurück! Geh hin, wo du herkommst!
    Schwein, elendes Dreckschwein. Mit verschlossenem Mund schluckte ich die Wörter hinab, drehte mich um und rannte, hechtete die Treppe hinunter, hinaus auf die Straße. Leo stand im Hof, als ich zurückkam.
    Ich will nicht zurück!
    Das versteh ich, Bub! Aber was soll aus dir werden?
    Niemand war so in Ordnung gewesen wie der Alte.
    Ich würde dich jederzeit hierbehalten, aber aus dir muss was werden, aus einem wie dir! Die warme Hand auf seiner Schulter, der aufmunternde Druck.
    So war Leo. Wenn ich in eines der DP-Lager ginge, bekäme ich Essen und Geld. Hat Leo gesagt. Und einen Rücktransport.
    Wissen Sie, was DP-Lager waren?
    Nein.
    Er sagt jetzt nicht wieder: Warum fragen Sie dann nicht?
    Er sagt: Displaced Persons. Lager für die Ausländer, die nach Deutschland gebracht worden waren während des Krieges, die also am falschen Platz waren.
    Sie nickt.
    So wie Paula sahen das viele. Sagt er. Aber dass es gerade Paula war, die das zu mir sagte! Wir bekommen doch kein Geld mehr für dich, sagte sie. Und: Wir haben doch selbst fast nichts.
    Die kleine Schwester antwortet nicht.
    Schließlich bettelte ich, flehte ich: Wir könnten heiraten, das geht nun doch. Ich gebe Unterricht. Ich kann das.
    Er erzählt das nicht zu Ende:
    Wem gibst du Unterricht? Hier ist doch niemand, der das braucht! Paulas milde lächelndes Gesicht, ihr Körper, der sich aus dem Nachhemd wand im schmalen Bett, sich ihm entgegenbog, seine Hände auf ihre Hüften legte, in den Schoß, auf ihre feuchte Scham, verlangend, komm!
    Und er: Dann bleibe ich!
    Und er versuchte sie wieder herbeizulieben, her zu sich, mit all seiner Freude an ihr, mit seiner ganzen Kraft. Er dachte, er konnte das schaffen. Bis Stani kam.
    Wenn man einen Menschen durch den Tod verliert, ist das einfacher, als verlassen zu werden? Was ist eine Liebe rückwärts betrachtet noch wert, wenn einer sie verrät? Habe ich mich so täuschen können in dem, was ich spürte? Solche Fragen fingen mich an zu quälen, als ich bei Onkel Stani in der Mansarde lag. So zweifelnd, so hadernd habe ich bei Onkel Stani gelegen, wochenlang, und meine Augen kannten jede Latte. In der dritten Latte auf der Dachschräge befanden sich fünf Astlöcher und sie war an sieben Stellen gespalten, schmale Schlitze. Im Schuppen mit Wiechek hätte ich das Licht durch solche Ritzen hindurch scheinen sehen, bei Mond und in der frühen Dämmerung. Hinter dem Holz unter Onkel Stanis Dach spürte ich Dämmschutz, wenn ich die Finger durch die Astlöcher bohrte.
    Und weiter? Fragt die kleine Schwester, als er schon drei Mal das Ticken der Uhr gehört hat.
    Nichts weiter.
    Sie haben Sie nie mehr gesehen?
    Doch!
    Irgendwann wäre es so weit, hat er immer gedacht, sie stünde vor ihm und würde ihn erkennen. Er ist müde. Das Erinnern fällt ihm nun immer schwerer, das Bild ihrer Mädchengestalt fliegt nicht so leicht herbei, nicht einmal dieser eine Moment, den er seit über vierzig Jahren mit sich herumträgt. Er muss die Augen schließen, geduldig sein, warten, nichts tun, als auf diesen Moment zu warten und an sie zu denken. Und an die Stadt, die nie seine Stadt geworden war; sich hindenken. Immer näher heran. Da bewegt sie sich die Treppe hinab, jung, störrisch, knochig eigentlich, und wäre ihm nicht immer klar gewesen, wer sie ist, hätte er sich wahrscheinlich in sie verliebt. Auch so. Auch so ist es ihm, als sei er eine Weile wirklich in sie verliebt gewesen. Am unteren Treppenabsatz hatte ein junger Mann auf sie gewartet. Sie hüpfte zwei Stufen herunter

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