Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
kleine Schwester. Sie können das nicht verstehen. Ich versteh das ja auch nicht, was damals los war, ich versteh Ihre Paula, vielleicht versteh ich sie, so wie Sie sind. Grausamkeit, jetzt wissen Sie es, die gibt es auch hier, jeden Tag, sagt sie. Jeden Tag.
Der Gummi schnalzt.
Mist! Sie schaut auf das Haargummistück zwischen ihren Händen. Entschuldigung, nein, ich entschuldige mich jetzt nicht. – Sie sind ein Besserwisser!
Er muss lächeln.
Die Grausamkeit kam mit der Angst des Vaters in sein Leben, zeigte sich in Izys gebrochenem Rückgrat, Milis Schweigen, dem Kopf des Vaters unter der Hand des Soldaten, des Vaters Verschwinden, darin, dass die Mutter eine gute Mutter sein wollte, obwohl sie dabei war, alles zu verlieren. Grausamkeit war kein Wort, das er aus seiner Muttersprache kannte, und keines aus seiner Vatersprache. Sie schwiegen über die Grausamkeit, als sie bei ihnen zu Hause angekommen war, sie redeten schön, was noch blieb. Das Haus, die Kartoffeln im Keller, dass die Zeit besser würde, dass sie nicht alleine waren. Dass so erwachsen werden ging. Dass es Izy gut hat im Hundehimmel, redete er sich selbst ein, und der Vater stark genug wäre, um wiederzukommen, zäh die Mutter und Mili. Sie logen sich die Hoffnung ins Haus und beteten den Gott herbei, der ihnen das Leben doch bis dahin schön gemacht hatte. Er kam aber nicht. Erst mit Paula hat Bili ń ski verstanden, dass Beten so sinnlos war wie die Vorstellung, er könnte Paulas Liebe herbeilieben.
Hören Sie mir wieder zu?
Ich höre Ihnen immer zu.
Sie machen an Ihren Haaren herum.
Weil der Haargummi kaputt ist.
Er hat sie zwei Mal gesehen. Einmal mit kurzen Haaren, mit kurzen toupierten Haaren, Hannah, und das andere Mal mit dieser noch viel französischeren Frisur, mit diesem wippenden Pferdeschwanz, weit oben angesetzt, der bei jedem Schritt wippt. Bei jedem. Er kann das Bild aber jetzt nicht finden, Paula schiebt sich davor, immer wieder sie, mit den Haaren zum Dutt, mit den wallenden Haaren nachts, die ihr bis zur Hüfte reichten und ihn umfingen wie ein Schleier.
Und? Fragt die kleine Schwester.
Glauben Sie an Gott?
Ja.
Warum?
Weil ich das hier sonst nicht machen könnte.
Soll er widersprechen? Soll er ihr sagen, dass das kompletter Unsinn ist? Dass es vollkommen ausreichen könnte, zu denken, das gehört zum Leben dazu, das Kranksein, das Sterben, alles. Und dass es Menschen gibt, die besser davonkommen als andere. Dass das nichts, aber auch gar nichts mit Gott zu tun hat.
Na gut, sagt er. Habe ich auch mal. Da habe ich zu Paula gesagt, dein Gott verhindert, dass wir uns lieben dürfen.
Und Paula: Wir dürfen uns doch lieben!
Nein, sagte ich.
Doch! Nur keiner darf es wissen. Sagte Paula.
Dein Gott ist ein Heuchler! Antwortete ich.
Und dann, als plötzlich alles anders wurde, die Amerikaner dastanden und Ordnung schaffen wollten: Deutschland den Deutschen, alle Ausländer wieder raus, sagte ich zu ihr, dass ich nicht zurückmöchte, außerdem dürften wir uns jetzt doch lieben.
Es ist noch zu früh. Sagte Paula.
Es ist bald zu spät. Habe ich gesagt.
Dann wissen doch alle, dass wir seit Jahren –, sagte Paula.
Das ist doch nun egal.
Nein! Sagte Paula und zog sich zurück.
Es ist bald zu spät, habe ich ihr gesagt, und sie tat nichts. Ich bleibe bei dir. Habe ich gesagt. Und auch wenn es dich nicht gäbe, ich will nicht zurück nach Polen, da ist niemand mehr. Was soll ich dort?
Und wovon willst du leben? Hat Paula gefragt.
Ich wusste es nicht. Unterricht, dachte ich, wie zu Hause. Ich war gut in der Schule. Lehrer werden, dachte ich.
Leo sagte, das kostet Geld. Ausbildung kostet Geld. Du musst in die Schule.
Rückdeportation. Rücktransport, sagte Breuer. Das war der Ortsvorsteher. Du kannst aber auch heiraten, sagte Breuer und lachte höhnisch, zwinkerte mit dem linken Auge unter der buschigen rotbraunen Braue, winkte und ging weg.
Ich war der einzige noch verbliebene Zwangsarbeiter im Dorf gewesen. Kolja, der als Ersatz für Wiechek gekommen war, war schon weg, zurück in der Heimat, und Wiechek war tot.
Am nächsten Tag bin ich zu Breuer in die Amtsstube gerannt. Haben Sie denn keine Arbeit für mich? Fragte ich ihn.
Bili ń ski! Du siehst doch, es gibt nichts zu tun.
Ich mache alles. Jeden Dreck.
Agota, als er ihr davon erzählt hatte, schimpfte, du hast dich verkaufen wollen.
In Polen, da habt ihr jetzt jede Menge zu tun. Sagte Breuer. Und Häuser und Land. Was willst du denn hier? Das ist nicht
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