Was im Dunkeln liegt
abwechselnd an dem Seil, ehe wir uns auf die Wippe setzten, für die wir allerdings zu groß waren.
»Was für ein irrer Spielplatz für Kinder«, sagte Trudie.
»Ich frage mich, wer ihn benutzt«, entgegnete ich. »Hier wohnt doch kaum jemand.«
»Ach, eine Familie würde schon genügen – und die wohnt wahrscheinlich auf der anderen Seite des Waldes. Gibt es weiter unten an der Straße nicht noch einen Weg in den Wald?«
Die Entdeckung, dass Bettis Wood in Wahrheit ein glücklicher Ort war, an den Kinder zum Spielen kamen, versetzte mich in Hochstimmung. Statt mit blutrünstigen Hammermördern war der Wald in meiner Vorstellung nun mit herumtollenden Dachsen und einer freundlichen Mrs Tiggy-Winkle, der Wäsche waschenden Igelfrau, bevölkert. Selbst Trudies halbherzige Überlegung: »Ich frage mich, wo genau sie Agnes gefunden haben«, konnte meiner Waldidylle keinen Dämpfer versetzen.
Nachdem wir alles, was der Spielplatz zu bieten hatte, ausgiebig ausgekostet hatten, ließen wir uns auf einen Streifen Gras fallen. Ich lag auf dem Rücken und betrachtete das Sonnenlicht, das durch das Laub sickerte. Ich fand heraus, dass ich, wenn ich abwechselnd ein Auge zukniff, den über mir aufragenden Zweig von einer Seite der Sonne zur anderen springen lassen konnte. Ich hatte schon längst aufgegeben, Trudie direkt nach ihrer Herkunft zu fragen, und versuchte nun eine neue Taktik. »Was wirst du tun, wenn der Sommer vorbei ist?«
»Nach Hause zurückgehen, nehme ich an.«
»Aber ich dachte, du bist weggelaufen?«
»Ich bin nicht weggelaufen – ich bin weggegangen. Egal, ich denke, meine Eltern werden bis dahin ihre Lektion gelernt haben.«
»Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass sie wahrscheinlich verrückt vor Sorge sind? Bestimmt glauben sie, du bist tot.«
»Das ist doch Blödsinn«, erwiderte sie – doch ich nahm die leichte Unsicherheit in ihrer Stimme wahr. »Warum, um alles in der Welt, sollten sie so etwas glauben?«
»Weil man das in so einer Situation immer glaubt.«
»Meine Eltern nicht.«
»Natürlich tun sie das. Selbst wenn man nur den Bus verpasst hat, glauben Eltern schon, dass man in irgendeinem Leichenschauhaus liegt.«
»Mm – kann sein.«
»Du könntest sie jederzeit anrufen. Oder jemand anderen. Einfach, damit sie wissen, dass du gesund bist.«
Ein, zwei Minuten herrschte Stille, und als Trudie dann wieder das Wort ergriff, wechselte sie das Thema und beschwerte sich darüber, wie endlos lang Simon heute früh das Bad okkupiert hatte. »Ich musste so dringend aufs Klo. Ehrlich – ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der so lange braucht. Er muss der eitelste Junge des Universums sein. Ist dir schon einmal aufgefallen, wie viel Zeit er damit verbringt, dieses Stirnband um seinen Kopf zu binden, bevor sie zu buddeln anfangen?«
Über Simon zu lästern bot uns einen angenehmen Zeitvertreib. Nach einer Weile stand Trudie auf, um noch einmal an dem Seil zu schaukeln, und danach beschlossen wir, zum Haus zurückzugehen.
12
Ich habe Mrs Ivanisovics Brief mitgenommen – vorgeblich als Gedächtnisstütze für ihre Adresse, obwohl diese zusammen mit dem Inhalt ihrer Briefe unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingebrannt ist. Sie lebt in einer Einrichtung namens Broadoaks. Unter dieser Adresse wohnt sie seit ungefähr zehn Jahren, aber da unsere Kommunikation normalerweise auf den jährlichen Austausch von Weihnachtskarten beschränkt ist, habe ich keine Ahnung, was für eine Art Einrichtung das ist. Als ich die Adresse in mein »Monets Garten«-Adressbuch übertrug, habe ich sie mental der Kategorie Altenheim zugeordnet, und da Mrs I. nach wie vor imstande ist, zusammenhängende Sätze zu bilden, wird es vermutlich kein Heim für »ältere verwirrte Menschen« sein – was die euphemistische Umschreibung der Institution ist, in der Hillys Mutter gegenwärtig untergebracht ist.
Während ich über die Tees-Brücke fahre, überlege ich, ob ich Mrs Ivanisovic wohl erkennen werde. Sie wird mittlerweile eine alte Frau sein, mit grauem Haar – vielleicht mit Stock oder Gehwagen. Schon damals, als ich Dannys Mutter das erste Mal traf, habe ich sie als alt empfunden. Mit der Arroganz der Jugend dachte ich, ihr Leben sei bereits so gut wie vorbei. Fünfundzwanzig erschien
mir als gesetztes Alter und dreißig definitiv als uralt. Dannys Mutter war groß, schlank, graziös. Sie trug teure maßgeschneiderte Kleidung, ging einmal in der Woche zum
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