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Was im Leben zählt

Was im Leben zählt

Titel: Was im Leben zählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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flüstert er, und ich zwinge mich, seinem Blick standzuhalten, weil ich nicht sicher bin, ob ich es wirklich hören möchte, nicht mal sicher bin, was ihm eigentlich leidtut. Da ist zu vieles.
    «Okay.» Ich nicke, die einfachste Antwort. Zu allem anderen bin ich viel zu erschöpft.
    «Ich bleibe hier», sagt er, als ich mich endlich von seinem Blick gelöst habe und stattdessen die Schwingtür zur Notaufnahme anstarre, mit schierer Willenskraft versuche, einen Arzt herbeizuzwingen, der uns beteuert, dass alles wieder gut wird, dass ich nicht zu spät gekommen bin, dass mein Egoismus nicht ihr Untergang gewesen ist. «Ich bleibe hier», sagt er noch mal.
    «Danke. Mein Vater kommt bestimmt bald. Ein bisschen Gesellschaft wäre schön. Wenigstens bis er da ist.» Meine Augen sind fest auf die verdammte Tür geheftet. Jetzt geh schon auf!
    «Nein. Hör zu. Sieh mich bitte an.» Seine Stimme ist verändert. Der Tonfall löst mich aus meiner Trance. « Ich bleibe hier . Bei dir. In Westlake.» Er verstummt, er kennt das Gewicht seiner Worte, die im Gegensatz zu allem stehen, was er in den letzten vier Monaten getan und kaputtgemacht hat. «Wenigstens bis es Darcy bessergeht. Außerhalb der Saison brauchen sie mich da unten sowieso nicht. Was hältst du davon? Für den Anfang.»
    Ich nicke. Okay. Ich will im Augenblick nicht darüber nachdenken. Gut, ja, bis es Darcy bessergeht. Ja. Für den Anfang.

    Als es dunkel wird, bestehen Luanne und mein Vater darauf, dass ich nach Hause fahre.
    «Geh duschen. Versuch zu schlafen», sagt er wie ein richtiger Vater. «Ich bleibe hier. Heute Nacht wacht sie wahrscheinlich sowieso noch nicht auf.» Seine Stimme klingt rau, seine Augen glänzen verdächtig. Ich weiß, dass er der Einzige ist, den diese Geschichte vielleicht noch mehr getroffen hat als mich, und jetzt versucht er, wenigstens etwas von meinem Schmerz, meiner Schuld auf sich zu nehmen, sie aufzusaugen wie ein Schwamm, und ausnahmsweise lasse ich ihn. Wir sind beide mitschuldig. Und wir wissen es beide.
    Die Ärzte haben uns informiert, dass Darcy im Koma liegt, was weniger schlimm ist, als es sich anhört, sagen sie.
    «Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass sie wieder völlig gesund wird», heißt es. «Wir glauben, dass sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden von allein zu sich kommt, und dann werden wir weitersehen.»
    «Was meinen Sie mit weitersehen?», habe ich einen von ihnen gefragt, denjenigen, der am ältesten aussah, als hätte er die meiste Erfahrung, als wüsste er die Antwort.
    «Das bedeutet, dass eine Unterkühlung manchmal gewisse Nachwirkungen mit sich bringt – Gedächtnisverlust zum Beispiel –, die sich erst einschätzen lassen, wenn Ihre Schwester aufgewacht ist.» Bei der Vorstellung, Darcy könnte vielleicht nicht mehr dieselbe sein, zieht sich in mir alles zusammen. «Wir haben es außerdem mit Erfrierungen zu tun», fügte der Arzt noch hinzu. Es klang fast beiläufig. «Finger und und vor allem die Zehen wurden in Mitleidenschaft gezogen. Wir können die Beweglichkeit erst testen, wenn sie aufgewacht ist. Sie wird wahrscheinlich Physiotherapie brauchen. In dem Fall muss sie noch eine Zeitlang zur Reha hierbleiben.»
    Ich stieß einen leisen Schrei aus, einen Schmerzensschrei, denn von allen Dingen, die man Darcy nehmen könnte, wäre nichts grausamer als der Verlust ihrer Hände. Luanne versuchte, mich zu beruhigen, sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, mit solchen Dingen hätte sie tagtäglich zu tun, aber ich war mir nicht sicher, ob es nur wieder die für sie typische Ahnungslosigkeit war oder ob ich ihre Worte ausnahmsweise beherzigen und ihr glauben durfte.
    Mein Vater verfrachtet mich in ein Taxi, und kurz nachdem ich zu Hause angekommen bin, taucht Tyler mit einer Reisetasche auf. Ich war schon im Bad und mache ihm im Schlafanzug wortlos die Haustür auf, drehe mich um und tapse nach oben ins Schlafzimmer, so erledigt, dass mir auf halber Treppe die Beine fast den Dienst versagen. Ich sinke halb ohnmächtig unter die Bettdecke und wünsche mir nur noch, dass der Schlaf sich meiner erbarmt.
    Als ich schon fast weggedriftet bin, geht knarzend die Schlafzimmertür auf, und neben mir bewegt sich die Matratze. Ich drehe mich um und sehe Tyler neben mir in meinem – in unserem – Bett liegen, einfach so, als hätte er es nicht vor drei, beinahe vier Monaten geräumt, nein, eigentlich schon viele, viele Monate früher.
    «Hallo», flüstert er.

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