Was im Leben zählt
beruhigen. Was ist nur mit dir los, Tilly Farmer? , denke ich, und im selben Augenblick wirft Darcy mir einen Welche-Laus-ist-dir-eigentlich-über-die-Leber-gelaufen?-Blick zu. Als ich mir schließlich sicher bin, dass ich nicht doch noch handgreiflich werde, atme ich hörbar aus und setzte mich neben sie.
«Was ist passiert?», frage ich seufzend.
Sie wischt sich die schmutzigen Hände an ihren Shorts sauber. «Ach, ich habe letzte Nacht mit ihm geschlafen.» Sie sieht mich mit riesengroßen, unschuldigen Kinderaugen an, als wüsste sie nicht genau, dass Dante seit dem Tag, als sie nach Berklee abgehauen ist, nur auf diese Gelegenheit gehofft hat. «Hätte ich wohl besser nicht tun sollen. Er sagt, er liebt mich immer noch.» Sie zuckt die Achseln.
«Oh, Darcy !», sage ich nur, viel zu erschöpft für eine Standpauke. Mein Zorn ist verraucht. «Na gut. Komm rein.»
Erst jetzt fällt mir mein Vater wieder ein. Mist!
Darcy war mit meinem Vater noch nie ganz im Reinen, vielleicht ist es auch andersrum, aber ich glaube nicht. Dafür erkor unsere Mutter, die das erkannte – ob bewusst oder unbewusst –, Darcy zu ihrem Lieblingskind, ein Umstand, den wir alle stillschweigend akzeptierten. Darcy ist diejenige von uns, die Moms musikalische Begabung geerbt hat, und sie verbrachten Stunden in trauter Zweisamkeit vor dem Klavier, in perfekter Harmonie zusammen oder allein spielend, alberten miteinander herum und teilten ihre Liebe zur Musik. Natürlich ist der Verlust der Mutter so früh im Leben dramatisch für jedes Kind, aber für Darcy war Moms Tod wie eine schwere Krankheit, von der sie sich bis heute nicht erholt hat. Dass mein Vater mit seiner Sauferei ihre Entfremdung noch vorantrieb, hat sie ihm nie verziehen.
Die Fliegentür schlägt klappernd zu, und wir gehen ins Haus. Die Räder von Darcys Koffer quietschen vernehmlich auf dem Fliesenboden. Ehe ich auch nur darüber nachdenken kann, was ich ihr sagen, wie ich ihr die Situation erklären soll und womit sich ihre Wut auf meinen Vater womöglich im Zaun halten ließe, kommt er uns auch schon entgegen. Er hat Tylers ausgeblichenen grünen Bademantel an und hält ein Glas in der Hand, von dem ich weiß, dass es nur Wasser enthalten kann. Die Befürchtung, es könnte trotzdem Wodka sein, lässt sich schon deshalb nicht abschütteln, weil solche Gedanken automatisch kommen, wenn der rückfällig gewordene Vater auf einmal wieder bei einem einzieht.
«Darcy!» Er streckt die Arme aus und zieht sie an sich. «Ich hatte dich gar nicht erwartet. Bist du gerade erst angekommen?», fragt er nonchalant. Er hat die Kunst perfektioniert, das Offensichtliche zu ignorieren. Nämlich dass er im Bademantel meines Mannes in der Diele meines Hauses steht, ungekämmt, unrasiert, in fleckigem Unterhemd, ein Veilchen im Gesicht. Entgegen aller Vernunft hofft er, dass die Menschen in seiner Umgebung die unzähligen Probleme, die sein Anblick verrät, schlicht ignorieren.
«Du brauchst eine Dusche», sagt sie und windet sich aus seiner Umarmung. Sie macht einen Schritt zurück und starrt ihn an. «Was tust du hier?»
«Was tust du hier?», fragt er zurück und zwinkert ihr zu. Er zwinkert ihr tatsächlich zu!
«Darcy», sage ich eilig. «Dad bleibt eine Weile hier bei uns. Tyler ist auf seinem Anglerausflug, und ich wollte nicht allein sein. Bring doch deine Sachen in Tylers Zimmer, okay?»
Darcy sieht Dad zweifelnd an. Ihr Blick wandert von ihm zu mir und wieder zu ihm zurück.
«Wieso sieht er so fertig aus?», fragt sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
«Wieso denn fertig?», frage ich und wünschte verzweifelt, mein Vater hätte meinen Rat befolgt und wäre heute Morgen unter die Dusche gestiegen. Stattdessen hat er offensichtlich den ganzen Tag verschlafen.
«Verquollene Augen. Fettige Haut», sagt sie, die Stimme hart wie Stahl. «Wie nach einer Sauftour.» Tja, dumm ist sie nicht, meine kleine Schwester. Wir alle haben vor langer Zeit gelernt, die Zeichen zu deuten.
«Darcy.» Mein Vater will etwas sagen, doch dann verschluckt er sich überraschenderweise an seinen Worten. Er lässt hilflos die schlappen Hände sinken. Sie erinnern mich an sterbende Fische.
«Oh, leck mich doch!», sagt sie, als es bei ihr klick macht. «Das glaub ich einfach nicht.»
«Darce.» Ich berühre sie sanft am Ellbogen. «Bring deinen Koffer in das freie Schlafzimmer.»
Sie zögert, sieht meinen Vater giftig an, mit so viel Zorn, wie ich ihn nicht mehr an ihr gesehen habe, seit
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