Was im Leben zählt
der Jahre, die vergangen sind, hat er es noch immer nicht über sich gebracht, sich vom Großteil der Dinge meiner Mutter zu trennen. An ihrem ersten Todestag haben Luanne und ich zumindest die Alltagsgegenstände in der Wohnung eingesammelt, den Inhalt ihres Kleiderschranks fein säuberlich in Kisten verpackt und hier runtergeschleppt. Darcy machte währenddessen auf dem Fahrrad die Nachbarschaft unsicher, und mein Vater beschwerte sich lediglich darüber, dass die Bar in der Nähe, die so gut zu Fuß zu erreichen gewesen war, dichtgemacht hatte.
Ich bin seit Jahren nicht mehr in diesem Keller gewesen. Die Kisten stehen alle noch genauso da wie vor Jahren, beschriftet mit meiner krakeligen Teenagerklaue: «Pullover», «Mäntel», «Schuhe».
Im Dämmerlicht taste ich mich durch dieses Archiv. «Blusen». «Jeans». «Hosen». Alles fein säuberlich in einer Zeitkapsel aufbewahrt. Als gäbe es Grund zur Hoffnung, dass Mom doch noch irgendwann wiederkommt, um ihre Sachen wieder in Besitz zu nehmen, solange er sie nur nicht weggibt. Hinter einer Schachtel mit der Aufschrift «Div.» entdecke ich noch eine, die ich nicht selbst beschriftet habe. Der Deckel trägt eindeutig die Handschrift meiner Mutter.
«Tillys Fotokram». Heiße Röte schießt mir in die Wangen bei der Erinnerung an diesen schwachen, zerbrechlichen Schatten ihrer selbst, als sie darauf bestand, mit mir einen neuen Fotoapparat kaufen zu fahren, und dann an den Nachmittag des gleichen Tages, als wir in meinem Zimmer auf dem Fußboden saßen und die alte Ausrüstung zusammen mit ein paar Bildern in eben diese Schachtel räumten. Wir hatten vor, Fotos und die Ausrüstung zu sortieren, nicht, sie für immer in den Keller zu verbannen. Aber dann, nur ein paar Wochen später, ist Mom gestorben, und es gab so viel Wichtigeres zu tun. Also ging ich eines Tages mit der Schachtel in den Keller und schob sie in den hintersten Winkel, wo sie bis heute geblieben ist, vergessen und unberührt. Der zweite Fotoapparat, den sie mir an einem Sommermorgen kurz vor ihrem Tod gekauft hat, ist mir eines Tages beim Aussteigen aus dem Auto hinuntergefallen. Ein Riss wie ein Bilderbuchblitz ging mitten durch die Linse, und ich habe mich nie getraut, meinen Vater um eine neue Kamera zu bitten. Das wäre mir angesichts des Scherbenhaufens, in den meine Welt sich verwandelt hatte, furchtbar kindisch vorgekommen.
Auf dem Deckel hat sich eine dicke Schmutzschicht angesammelt. Der Staub steigt mir in die Nase, und in dem Augenblick, als ich ein Niesen unterdrücke, klingelt mein Handy in der Handtasche.
Tyler. Na endlich! Ich habe nichts von ihm gehört, seit er vor zwei Tagen von der Bildfläche verschwunden und in der Hütte am See von Nolan Greens Eltern untergetaucht ist.
Ich klappe das Telefon auf und klemme es mir zwischen Ohr und Schulter. «Hey, alles klar?», sage ich, während ich den schmutzigen Deckel von der Schachtel hebe und einen Blick riskiere. Zerknüllte Zeitungsfetzen starren mir entgegen, vergilbt und modrig.
«Tut mir leid, dass ich nicht früher angerufen habe», sagt er. «Hier gibt es fast keinen Empfang. Außerdem sind wir fast den ganzen Tag draußen auf dem See. Du solltest mal sehen, was ich gestern an der Angel hatte! Liegt auf Eis. Ich bringe ihn mit. Fürs Wochenende.»
Ich schiebe die Hände unter die Papierknäuel und spüre etwas Weiches.
«Wie geht es deinem Vater?», fragt Ty.
«So lala.» Ich bin nur mit halbem Ohr dabei. Ehrlich gesagt hatte ich noch nie viel für die frischen Fische mit den trüben Augen und ihren winzigen, hinterlistigen Gräten übrig, die Tyler immer mit nach Hause schleppt.
Was ist das? Meine Finger schieben sich tiefer in die Kiste und kommen mit einem Stapel Schwarzweißabzügen wieder zum Vorschein.
«Wie geht es dir?», will Tyler wissen.
«Gut», sage ich. «Ein bisschen müde, aber gut.» Ich will ihm gerade von Luanne erzählen, aber dann fängt es in der Leitung an zu krachen, und seine Stimme ist nur noch abgehackt zu hören. «Ha – lo, ha – lo, Til? Ha – lo?»
«Ich bin hier!» Meine laute Stimme hallt von den feuchten Wänden wider.
«Ich höre dich», sagt er, wieder ganz deutlich. «Ja, also, was ich sagen wollte. Ich habe einen unglaublichen Burschen erwischt, und, mein Gott, du glaubst ja nicht, was Nolan für Geschichten über die Mannschaft auf Lager hat.» Nolan, der nie gut genug war, um für die Minors zu spielen und sich im College gerade mal für die Ersatzbank der
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