Was im Leben zählt
Zufall abgeschrieben. So was gibt es, davon habe ich schon mal gehört: Wenn man einen Menschen sehr gut kennt, seine Energie, die Körpersprache, seine Muster, dann entwickelt man eine Art sechsten Sinn, weiß intuitiv, was er denkt, was er als Nächstes sagen wird. Und das – habe ich mir gestern überlegt, während ich verzweifelt versucht habe einzuschlafen – muss bei mir und meinem Vater passiert sein. Und was ist mit diesem eigenartigen Stachel der Wut? Diesem brütenden Zorn auf die ganze Welt? Na ja, also wirklich, komm schon, wer ist denn nicht ab und zu mal genervt , denke ich, ab und zu mal völlig angepisst von allem und jedem, auch wenn es völlig und grundsätzlich gegen seine gutmütige Art ist?
«Wunderbar», sagt Luanne, als befände sich mein Vater bereits wieder auf dem sicheren Wege der Besserung. Ärger durchzuckt mich wie ein elektrischer Schlag. «Gut, hör zu. Ich muss dir was erzählen. Ich bin schwanger.»
«Oh, Lulu! Das ist ja wunderbar!» Ich ziehe sie an mich, nehme sie fest in den Arm und halte sie dann auf Armeslänge von mir. «Man sieht noch gar nichts.»
«Ich bin erst in der fünften Woche», flüstert sie. Im gleichen Augenblick ergreift Steven Sommerfield vom Lokalradio das Mikrofon und erklärt die Feierlichkeiten für eröffnet, und ich muss mich ganz nah zu ihr beugen, um sie zu verstehen. «Sag bitte noch keinem was davon. Ich habe das Ergebnis heute selbst erst bekommen.»
«Fünfte Woche! Wow!», rufe ich über den Lärm hinweg. «Ich bin vielleicht auch schwanger!» Ganz lässig, nebenbei, als wäre ich nicht in den letzten zwei Tagen alle fünf Minuten aufs Klo gerannt, um nachzusehen, ob mein Höschen noch sauber ist. Meine Periode ist jeden Tag fällig.
«Warte mal, was ?» Sie quiekt. «Du bist auch schwanger?»
«Nein, nein. Ich meinte, ich könnte auch schwanger sein.»
«Mein Gott, das wäre ja toll», sagt sie, küsst mich auf die Wange und drückt meine Hand. «Das hätte Mom bestimmt gefallen!»
Mein Lächeln kommt von Herzen. So ist sie nun mal, meine mittlere Schwester – vordergründig oberflächlich, aber mit oft unvermutetem Tiefgang. Ehe ich etwas erwidern kann, zerreißt eine ohrenbetäubende Explosion die Luft über unseren Köpfen. Bunte Lichter formen im Nachthimmel eine wunderbare Blüte und ergießen sich glitzernd in Richtung Boden, werden blass und immer blasser, bis sie sich in nichts aufgelöst haben.
Als ich, nachdem ich Susanna und die Kinder abgesetzt habe, in unsere Auffahrt einbiege, sitzt Darcy auf den Verandastufen.
«Was?», belle ich, immer noch sauer. Dieser tiefe Groll, diese allgegenwärtige Unzufriedenheit brummt beständig in mir, disharmonisch, lebendig und präsent. Ich beuge mich nach hinten, um die Einkaufstüte vom Rücksitz zu nehmen, die ich dort vergessen hatte. «Ist das ein Friedensangebot, oder was willst du?»
«Na gut», sagt sie gepresst, steht auf und streckt mir die geöffneten Hände entgegen. «Ja, es tut mir leid. Und jetzt vergiss es.» Sie zögert. «Außerdem muss ich hier pennen.»
«Hätte ich mir ja denken können», sage ich. «Ohne Hintergedanken geht’s wohl nicht.» Ich schleppe mich die Stufen rauf. Die vollgepackte Tüte mit Dosenbohnen, -erbsen und -mais verursacht mir einen Krampf im Arm.
«Hör zu, es tut mir wirklich leid», sagt sie. «Himmel!» Wir wissen beide, dass es nicht zu mir passt, nachtragend zu sein, sie derart schwitzen zu lassen. Doch der Zorn sitzt wie ein Stachel in meinem Fleisch. Ich drücke mich brüsk an ihr vorbei. «Jetzt komm schon. Bitte! Ich musste bei Dante raus. Ich brauche doch nur für ein paar Tage ein Dach über dem Kopf. Mein Flug geht erst in einer Woche, sonst wäre ich schon längst verschwunden, das kannst du mir glauben.»
«Himmel noch mal, Darcy! Jetzt reiß dich gefälligst zusammen!» Ich stelle die Tüte – mit etwas zu viel Nachdruck – ab, und die Dosen klappern gegeneinander, die akustische Akzentuierung meiner Gedanken. «Ich meine, schau dich doch an! Was tust du nur mit deinem Leben?»
Ihr Blick flackert, und sie macht unwillkürlich einen Schritt zurück, als hätte die Wucht meines unerwarteten Zorns sie umgeblasen. Prompt stolpert sie – bum! – über den Koffer, den ich erst jetzt hinter ihr stehen sehe, und landet in der gleichen Sekunde auf ihrem Hintern.
«Scheiße!», ruft sie.
Ich beiße mir auf die Lippe und versuche, mit schierer Willenskraft den Puls, der wie ein Metronom in meiner Kehle pocht, zu
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