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Was im Leben zählt

Was im Leben zählt

Titel: Was im Leben zählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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sie nach Berklee gegangen ist, fest entschlossen, nie mehr im Leben auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Ihre Gedanken stehen ihr ins Gesicht geschrieben. Sie wägt ihre Möglichkeiten ab – zurück zu Dante gehen oder raus zum Flughafen fahren und sich ein neues Ticket kaufen, das sie sich nicht leisten kann –, ehe ihr die Ausweglosigkeit ihrer Situation klarwird. Sie packt den Griff ihres Koffers und dann – quietsch, quietsch, quietsch – zerrt sie den Inhalt ihres ganzen Lebens achtlos hinter sich her durch den Flur.
    Sie steckt fest , denke ich.
    Und dann ertönt – völlig überraschend – trotz Feuerwerk, trotz der möglichen Hoffnung in meinem Bauch, trotz allem eine fremde, winzige Stimme in meinem Kopf, dieselbe, die meine Seele jagt, seit ich im Schlafzimmer zu Boden gegangen bin, und fragt mich laut und vernehmlich: Stecken wir nicht alle fest?

[zur Inhaltsübersicht]
    Sechs
    I m Haus meines Vaters modert es. Über dem Wohnzimmer schwebt eine nach Schimmel stinkende Muffelwolke, als hätte hier seit Wochen niemand mehr gewohnt – oder falls doch, als hätte derjenige sich nicht mal um ein absolutes Minimum an häuslicher Hygiene geschert. In der Diele liegt ein umgekippter Riesenstapel ungelesener Zeitungen über den Boden verstreut. Vor dem Briefschlitz türmt sich ein ganzer Berg ungeöffneter Post; aus dem übervollen Mülleimer in der Küche quillt Abfall aller Art. Vor allem aber wirkt das Haus unbewohnt, tot. Wieso hat Adie mich nicht angerufen? Sie hätte mich wenigstens anrufen können!
    Der inzwischen schon vertraute Groll meldet sich: Ein winziger Kieselstein im Schuh, unbequem, lästig, unmöglich zu ignorieren. Langsam komme ich mir vor wie der unglaubliche Hulk – eben noch ganz normal und eine Sekunde später grün vor Ärger, sich das T-Shirt vom Leib reißend, auf der Suche nach einer Prügelei durch die Straßen stürmend. Oder wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Oder beides.
    Ich klaube diverse einzelne Socken vom Fußboden auf und überlege, wer wer ist – welcher war gleich wieder der Irre? Jekyll? Hyde? Ich weiß es nicht. Ich knülle die Socken zusammen und schleudere sie in Richtung Couch, wo sie mit traurig laschem Aufprall landen.
    Dad lebt immer noch im Haus unserer Kindheit. Es ist mit seinen fünf Schlafzimmern und dem Pool, der inzwischen die meiste Zeit abgedeckt bleibt, viel zu groß für ihn. Adriana wollte es verkaufen, sie hat immer versucht, ihn zu überreden, mit ihr in eine Neubauwohnung in der Anlage neben dem Einkaufszentrum zu ziehen. Neubauten sind ungewohnt für Westlake, und die meisten Wohnungen stehen nach wie vor leer. Mein Vater hat Adie mit dem Argument hingehalten, er wolle warten, bis die Preise sinken, aber Luanne und mir war klar, dass sie ihn nie dazu kriegen würde, selbst wenn er eins der blöden Dinger in der Lotterie gewinnen würde.
    Ich lasse die Finger über die Küchenwand gleiten. Meine Mutter hat sie selbst tapeziert, kurz bevor sie krank geworden ist. Wir haben uns alle ins Auto gequetscht und sind gemeinsam zum Raumausstatter gefahren. Es dauerte Stunden, bis wir uns auf eine Tapete einigen konnten. Darcy hielt auf einmal das Muster einer kremfarbenen Schmucktapete in Händen, mit winzigen grünen und rosa Blümchen, die fast auf dem Hintergrund zu tanzen schienen. Wir scharten uns um unsere kleine Schwester, um einen Blick über ihre Schulter zu werfen, und wurden auf einmal alle ganz still. «Das ist sie!», rief Darcy, und wir murmelten zustimmend. Und dann, kurz danach, kam die Diagnose, und obwohl sich unsere Küche durch die Horrornachricht im Grunde optisch nicht verändert hatte, war natürlich nichts mehr so wie vorher. Selbst die niedlichen tanzenden Blümchen schienen ihren Schwung verloren zu haben.
    Ich stopfe den überquellenden Müll zurück in den Eimer, mache das Licht wieder aus und gehe in den Keller hinunter, um einen Koffer zu suchen, der so groß ist, dass ich meinem Vater Sachen für ungefähr einen Monat mitbringen kann. Die viel zu steilen Stufen knarren bei jedem Schritt. Ich taste mich vorsichtig an der kühlen Zementwand entlang nach unten. Die große Lampe ist schon vor Ewigkeiten ausgebrannt, und ich ziehe an der rostigen Metallkette, die am Fuß der Treppe von der Decke hängt, um die kleine Wandlampe anzumachen. Meine Augen brauchen einen Moment, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen.
    In den feuchtkalten Eingeweiden des Hauses ist das ganze Leben meines Vaters versammelt. Trotz all

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