Was im Leben zählt
weil die Beratungslehrerin in mir es besser weiß, weiß, dass ein Einzelkämpfer gegen diesen Feind nichts ausrichten kann. Doch dann sieht er mich an, mit seinen blutunterlaufenen Augen und seiner aschfahlen Haut, und ich sehe seine Scham, und mein Herz wird weit, geht auf für meinen Vater. Für meinen Vater, das Opfer, ganz egal, ob er einen Teil – wenn nicht sogar den Löwenanteil – der Schuld an seinem Leid selbst trägt.
Natürlich werde ich ihm helfen. Darin bin ich nun mal Spezialistin.
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Fünf
M ein Vater, Ty und ich entwerfen einen Plan. Genauer gesagt, ich entwerfe einen Plan und erläutere ihn den anderen beiden Sonntagmorgen am Frühstückstisch, ehe Tyler zu seinem alljährlichen Angelausflug mit der alten Clique vom College aufbricht. Weil Sheriff Hernandez ihm für einen Monat den Führerschein entzogen hat und weil ich meinem Vater nicht genug über den Weg traue, bis er mir bewiesen hat, dass er auch auf sich allein gestellt nüchtern bleiben kann, wird er bei uns im Gästezimmer wohnen. Wenn die dreißig Tage Bewährung vorbei sind, werden wir die Lage neu bewerten und je nach der Stabilität seines Zustands entscheiden, was als Nächstes zu tun ist. Ich erwähne eine Entzugsklinik, vorsichtig, mit ganz zart ausgestreckten Fühlern, aber mein Vater gebietet mir augenblicklich Einhalt, die Ohren rot vor Pein.
«Da gehe ich nie wieder hin», fährt er mich an und meint damit die Reha-Klinik, in die ich ihn im Sommer zwischen meinem ersten und dem zweiten Studienjahr am College verfrachtet hatte. Als sich die Lage endgültig zugespitzt hatte und sich das Problem nicht länger verdrängen ließ; als Darcy mich völlig verängstigt und heiser flüsternd aus ihrem Versteck im Wandschrank angerufen hatte, während ein Junkie auf der Suche nach Dingen, die sich zu Geld machen ließen, durchs Haus rumorte und mein Vater stockbesoffen auf der Couch seinen Rausch ausschlief, völlig hinüber, und seine verängstigte Tochter ihrem Schicksal überließ.
Der Plan ist zwar nicht gerade der sicherste, wird mir Montagabend klar, als ich zu Susanna fahre, um sie und die Zwillinge zum Feuerwerk anlässlich des 4. Juli abzuholen. Aber er ist zumindest ein Kompromiss, mit dem wir erstmal alle leben können. Ich habe immer noch nicht mit Darcy gesprochen. Mir ist klar, dass sie kaum die weiße Flagge schwenken wird und ich irgendwann doch die meine werde zücken müssen, aber das packe ich im Augenblick einfach nicht. Morgen rufe ich sie an , sage ich mir, genau wie gestern. Ich rufe sie an, tue so, als wäre nichts passiert, wir machen einfach weiter wie vorher, und irgendwann finde ich auch einen Weg, ihr zu erzählen, was mit Dad passiert ist. So ist es schließlich immer gewesen, auch wenn ich sauer auf mich bin wegen des Zugeständnisses. Oder bin ich nur sauer auf das Zugeständnis selbst? Ich weiß es nicht.
Ich hupe, und die Zwillinge kommen aus dem Haus geschossen. Susie schlurft schwerfällig hinter ihnen her. Sie sieht aus, als würde sie viel lieber einfach ins Bett gehen. Aber ich freue mich zu sehen, dass ihre Haare frisch gewaschen glänzen und sie sich sogar zu einem Hauch Lippenstift und Rouge durchgerungen hat.
«Wir müssen eine Entscheidung fällen!», sage ich zu ihr, sobald die Kinder sicher angeschnallt sind und wir über die Route 72 in Richtung See brausen.
«Pst!», macht sie und wirft einen schnellen Blick nach hinten. «Ich will nicht über Austin reden, wenn sie dabei sind.»
«Nein, doch keine Entscheidung über ihn ! Eine Entscheidung über das Musical. Welches wir inszenieren. Anderson muss es bis Freitag wissen.»
«Oh!», antwortet sie, als würde sie über tausend Gründe nachdenken, doch noch einen Rückzieher zu machen. «Ach, eigentlich ist es mir egal.» Sie zögert. «Das, was deiner Meinung nach am meisten Spaß macht.»
Ich werfe ihr einen kurzen Seitenblick zu und hefte den Blick wieder auf die Straße. Meine beste Freundin. Nein, besonders viel Spaß hatte sie in letzter Zeit definitiv nicht. Die Jungs kabbeln sich auf dem Rücksitz, aber Susie seufzt nur, starrt zum Fenster hinaus und sieht aus, als würde sie am liebsten einfach immer tiefer in den Sitz sinken, bis sie plötzlich nicht mehr da ist.
Als sie Austin auf die Schliche kam, musste ich sie förmlich davon abbringen, ihn grün und blau zu schlagen. Aber inzwischen ist die triste Realität zu ihr durchgedrungen. Sie musste erkennen, dass sie womöglich nicht genug Großmut
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