Was im Leben zählt
Sonne gelegt und war eingeschlafen, und Darcy war zu ihr geschlichen und hatte ihr – klick – direkt ins Gesicht fotografiert, unmittelbar ehe ich kam und sie mit einem Schwall eiskaltem Leitungswasser aufweckte. Wir lachten und lachten, und Luanne tat so, als wäre sie schrecklich wütend, aber weil sie nie lange sauer sein konnte, steckte unser Gelächter sie bald an, und dann gingen wir ins Haus, um Cola zu trinken.
Ich starre das Bild an, will mit aller Macht erzwingen, dass etwas Besitz von mir ergreift, etwas anderes als die Erinnerung an ein unbeschwertes, freies Leben, doch es kommt nichts. Darcy hat dieses Foto gemacht , denke ich. Darcy hat dieses Foto gemacht, nicht ich.
Und dann fällt mir das Polaroidfoto wieder ein, das Bild von Susanna. Es steckt immer noch in meiner Umhängetasche. Ich stürze zur Treppe und renne, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass mir exakt siebenundachtzig Minuten bleiben, bis ich mich mit Luanne zum Frühstücken treffe. Sie hat mich gestern Abend angerufen, auf der Suche nach Bestätigung, nach Hoffnung und Rückversicherung. Mir war klar, dass sie ihrem Körper nicht zutraut, diese Schwangerschaft durchzustehen, weil sie vor drei Monaten erst eine Fehlgeburt hatte, und deshalb haben wir uns für heute Vormittag auf einen Teller Pfannkuchen verabredet, sobald Charlie sein Vormittagsschläfchen hält. Als wären Pfannkuchen und Kinder die Lösung für alles.
Siebenundachtzig Minuten. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich die ersten beiden Male weg war, aber so lange doch sicher nicht nicht. Oder vielleicht länger? Aber ich muss es versuchen. Meine Tasche liegt unter dem Telefontisch in der Diele. Ich reiße sie auf, wühle mit der Hand bis zum Boden und ziehe triumphierend das Polaroidfoto heraus.
Ich renne zum Sofa, setze mich hin und starre das Bild meiner besten Freundin an, die vollkommen erschöpft auf meiner lila Couch sitzt. Ich warte darauf, dass es kommt. Und dann spüre ich es. Den Krampf. Den Schmerz. Das plötzliche Fieber, das sich in mir ausbreitet, mir durch sämtliche Glieder fährt, durch meine Eingeweide, meinen innersten Kern. Ich lehne mich zurück und lasse es geschehen, in der verzweifelten Hoffnung, dass das, was ich sehe, mich nicht zerstören wird; in der verzweifelten Hoffnung, dass ich nicht schon zu tief drinstecke.
Der Zuschauerraum ist dunkel. Vereinzelt schwebt Geflüster durch die Menge, Programmhefte rascheln, kleine Geschwister rutschen unruhig auf ihren Stühlen herum. Darcy (Darcy!) wirft einen Blick in Richtung Bühne und spielt mit einem kurzen Nicken das Intro zu Grease ; diese Melodie würde ich jederzeit erkennen. Die fadenscheinigen Samtvorhänge öffnen sich, bleiben auf halbem Weg hängen, werden dann mit einem Ruck ganz aufgezogen und enthüllen die kunterbunte Westlake-High-Theatertruppe. Wally Lambert, der Theaterfreak des Abschlussjahrgangs, steckt in der billigen Lederjacke, die sich schon seit Jahrzehnten im Theaterfundus der Schule befindet, und in viel zu engen Jeans mit aufgerolltem Hosensaum, was seiner Sanduhrfigur nicht eben schmeichelt. Die Haare trägt er mit viel zu viel Haarspray zurückgekämmt, und seine Füße stecken in blendend weißen Turnschuhen, die ihm seine Mutter vermutlich fürs neue Schuljahr gekauft hat und die er jetzt wahrscheinlich trägt, weil der Kostümfundus vergessen hat, seine Schuhe mit ins Budget einzuplanen. Direkt hinter ihm, in der Mitte der Bühne, steht CJ, in einem die Taille umschmeichelnden Tellerrock und rosarotem Strickjäckchen. Sie tritt verlegen von einem Bein aufs andere und wirft ihm verliebte Blicke zu – sie Sandy, er Danny.
Ich stehe hinter der Bühne, direkt neben Susanna, und weil ich noch nicht verstanden habe, zu was ich in diesen Zeitschleifen fähig bin und zu was nicht, strecke ich den Arm aus und berühre sie sanft an der Schulter. Ich tippe sie an, dann tätschle ich sie, und dann schubse ich sie beinahe, doch Susanna reagiert nicht. Es ist, als wäre ich gar nicht hier. Wie auch? Ich stecke in einem unbegreiflichen Raum zwischen Verstand und Materie, zwischen Erinnerung und Vorahnung, zwischen Jetzt und Dann.
Wally schnippt mit den Fingern, wiegt sich in den Hüften – so gut er eben kann, denn er ist zwar mit einem umwerfenden Tenor gesegnet, besitzt aber nicht wirklich Rhythmusgefühl und liegt immer leicht daneben –, springt in die Luft, bleibt breitbeinig stehen, streckt den Zeigefinger aus und dreht
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