Was im Leben zählt
gesprochen.
Im Haus ist es still. Nur aus Tylers Zimmer dringt leise die Stimme eines Nachrichtensprechers. Mein Vater ist zum Frühaufsteher geworden, und an den Tagen, an denen er nicht im Geschäft sein muss, wohnt er mehr oder weniger in Tylers Zimmer, nur den Fernseher zur Gesellschaft. Ich weiß, dass er versucht, Adriana zurückzugewinnen – ich habe ihn vorgestern zufällig belauscht, als ich mich mit einer nächtlichen Heißhungerattacke um ein Uhr auf der Suche nach einer Packung Kekse in die Küche schlich –, und ich weiß auch, dass sie ihm einen Korb gegeben hat. Deshalb sitzt er die meiste Zeit einfach nur hier rum, still, ohne große Ansprüche, hütet seine Nüchternheit wie etwas, das konstante Wachsamkeit erfordert – wie ein Experiment oder ein Käsesoufflé.
Draußen ist es schon ungefähr tausend Grad heiß, obwohl es noch nicht mal halb acht ist, und ich verbrenne mir die Schulterblätter an den Ledersitzen. Vorgebeugt lehne ich mich beim Fahren aufs Lenkrad. Die Stadt liegt noch im Schlaf, und wenn nicht, versteckt sie sich hinter runtergelassenen Sonnenblenden; in den verwaisten Vorgärten warten nur einsame Baseballschläger, durstige Petunien und ab und zu die Scherben zerschlagener Bierflaschen.
Das Haus meines Vaters sieht mehr oder weniger so aus wie vor ein paar Tagen. Der Müllgestank ist inzwischen so penetrant, dass er sich fast mit Händen greifen lässt. Ich atme tief ein, halte die Luft an und durchquere eilig die Diele. Ich bin eigentlich hergekommen, um sauber zu machen, aber bei Licht betrachtet spielt das auf einmal keine Rolle mehr. Angesichts der Tatsache, dass ich plötzlich in die Zukunft blicken kann, ohne auch nur den geringsten Gefallen an dem zu finden, was ich sehe, finde ich auf einmal, dass der Haufen stinkender Socken und die schimmelnde Pizza im Kühlschrank durchaus warten können.
Der Keller ist wie eine Zuflucht. Kein Gestank, nur der durchdringende, typisch schale Kellergeruch. Keine Hitze – ausgesperrt von der schweren Kellertür. Ich weiß nicht genau, warum ich wieder hier stehe, wonach ich suche. Ich weiß nur, dass ich heute morgen mit einem Cranberryfleck in der Unterhose und der Furcht (Furcht!) vor der Rückkehr meines Mannes aufgewacht und auf die Idee gekommen bin, dass ich hier unten vielleicht eine Antwort finden kann. Vielleicht kann ich hier enträtseln, was Ashley Simmons mir angetan hat. Vielleicht finde ich hier die Lösung, wie ich es doch noch rückgängig machen kann. Oder wie – und dieser Wunsch ist wahrscheinlich noch größer – ich das, was ich sehe, verändern kann.
Die Schachtel, die meine Mutter gepackt hat, ehe wir beide ahnen konnten, dass sie uns so schnell verlassen würde, steht da, wo ich sie hingestellt hatte, ehe ich in Ohnmacht gefallen bin. Tylers Foto, das von uns allen im letzten Hauch des Sommers unten am See, ist zu Boden geflattert und lehnt wie arrangiert an einer alten Farbdose.
Ich greife danach und nehme es auf der Suche nach Hinweisen unter die Lupe. Doch das Bild hat sich nicht verändert: das Porträt rosawangiger Teenager, die den Sonnenschein eines unbeschwerten Sommertages einatmen, ohne Gedanken an die Zukunft. Ich zerre die vergilbte Zeitung aus der Schachtel und grabe auf der verzweifelten Suche nach Antworten tiefer. Ich fördere meine alte Kamera zutage, meine alte 35 mm, untersuche sie, probiere sie behutsam aus. Ich komme mir vor wie eine Archäologin, die in der Vergangenheit wühlt, um die Gegenwart zu verstehen.
Ich grüble über die Vision von meinem Vater nach, aus der Nacht, bevor er gegen den Baum fuhr. Wo bin ich gewesen? Im Bett. Nein, nein. Im Schlafzimmer. Ich habe mir alte Fotos angesehen. Alte Fotos angesehen! Ich grabe mit beiden Händen in der Kiste, wie von Sinnen, auf der Suche nach einem weiteren Foto, das mir meinen Verdacht bestätigt. Mit hektischen Fingern bekomme ich irgendwas zu fassen, und ich zerre ein altes Schwarzweißfoto von Luanne heraus. Die Nahaufnahme zeigt fast nur Nasenlöcher und Wimpern. Meine Schwester ist im Grunde nicht zu erkennen. Aber ich erinnere mich daran, ich erinnere mich an diesen Schnappschuss. Ich kann mich daran erinnern, wie ich Darcy an einem Nachmittag Anfang Juni den Fotoapparat in die Hand drückte, als wir drei uns im Garten hinter dem Haus die Zeit vertrieben und aus lauter Langeweile nur Blödsinn machten. Lange vor allem anderen, damals, als ich noch Silly Tilly war. Ein ganzes Leben weit weg. Luanne hatte sich in die
Weitere Kostenlose Bücher