Was im Leben zählt
Mittwoch einen Gig.»
«Ich kann nicht», sagt sie wie aus der Pistole geschossen.
«Ja, dachte ich mir schon. Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du vielleicht Lust hättest, mit aufzutreten . Uns ist jemand ausgefallen», sagt er atemlos. «Es ist ein ziemlich guter Gig – wir spielen im Oliver’s –, und wenn du dabei bist, wird die Bude sicher voll. Wir könnten uns die Gage teilen.» Er zögert. «Ich weiß, dass du die Kohle ganz gut brauchen kannst.»
Sie dreht den rechten Fuß nach innen und denkt nach.
«Du solltest singen, Darce. Ich trommle meine Kumpel zusammen, und wir machen richtig einen drauf», sagt mein Dad.
«Du setzt keinen Fuß in eine Bar!», keift sie, ein bisschen zu giftig, ein bisschen zu verletzlich.
«Sie hat recht, Dad», rufe ich ihm nach, als er ins Haus verschwindet.
«Hör mal, Darcy, ich weiß, warum du mich nicht zurückgerufen hast», sagt Dante.
Statt zu antworten, sieht sie ihn nur böse an, stapft dann die Holzstufen hoch und drückt sich an uns beiden vorbei.
«Das hat nichts mit dir und mir zu tun», sagt er seufzend. «Wir müssen den Laden vollkriegen, wenn wir wollen, dass die uns noch mal holen. Außerdem hast du Auftritte immer gemocht.»
«Na schön», sagt sie und dreht sich zu ihm um. «Ich bin dabei. Aber glaube ja nicht, dass ich hinterher noch mal mit dir ins Bett gehe.» Die Fliegentür schlägt gegen den Türrahmen, und Dante läuft hochrot an.
«Mach dir nichts draus», sage ich. «Ich bekomme in der Schule viel Schlimmeres zu hören.»
Er seufzt. «Das hat wirklich nichts mit ihr und mir zu tun», sagt er, als würde mit jeder Wiederholung die Wahrscheinlichkeit wachsen, dass ich ihm glaube. Oder er sich selbst. Den Trick kenne ich, oh ja, den Trick kenne ich. Als könnte er den Gig nicht absagen oder einfach jemand anderen finden, der einspringt. Als hätte ich nicht gesehen, wie schmerzlich er sich nach ihr sehnt, ihr immer wieder ihre Untaten verzeiht, ihr aufbrausendes Benehmen, ihre abschätzige Haltung, und das schon, seit sie beide erwachsen sind oder fast erwachsen waren. Wir sind gar nicht so verschieden, Dante und ich.
«Es tut mir leid.» Ich streichle seine Schulter und gehe an ihm vorbei nach oben.
«Es ist nicht deine Schuld.» Er schüttelt den Kopf und lächelt kläglich. Ist es nicht, stimmt , denke ich. Und trotzdem bin ich, wie immer, diejenige, die sich entschuldigt.
«Wir sehen uns Mittwoch», rufe ich ihm von der Tür aus zu. «Das lassen wir uns nicht entgehen.»
«Ist Tyler dann schon wieder da?», fragt er völlig arglos. «Ich habe gehört, dass die UW ihm ein Angebot gemacht hat.»
«Das hast du gehört?» Meine Überraschung verrät mich. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich «wir» gesagt habe. «Ich». «Ich» wollte ich natürlich sagen. Das lasse ich mir nicht entgehen. Auch wenn Tyler sich das ebenfalls nicht entgehen lässt. Wir. Ich. Wir beide. Zwei. Einer. Spielt das tatsächlich eine Rolle?
«Das weiß hier doch jeder.» Dante zuckt die Achseln. «Hammergeil. Coach bei der UW.»
«Das macht ja schnell die Runde», sage ich. Die Vision zuckt mir durch den Kopf: der Umzugswagen, die Kisten, das dumpfe Prasseln des Regens. Was kann ich tun, um diese Aufnahme zu überspringen, zu löschen, zu ändern?
«Du kennst doch dieses Nest.» Er zuckt die Achseln. Ich nicke, weil er recht hat. Hier gibt es keine Geheimnisse. «Trotzdem ziemlich cool. Dabei mache ich mir aus so was eigentlich nichts. Ich hoffe, ihr beide kriegt das auf die Reihe.» Er dreht sich um und geht runter zur Straße. «Danke jedenfalls. Bis Mittwoch.»
Seine schmale Gestalt entfernt sich, wird kleiner und dann noch kleiner. Ich sehe ihm nach, bis er in Puppengröße den Ausgang in eine Seitenstraße nimmt. Natürlich ist es überhaupt kein Ausgang. Zumindest nicht von hier. Wir stecken alle fest. Vielleicht hat Darcy ja doch recht.
[zur Inhaltsübersicht]
Elf
S amstag wache ich auf, weil mein Höschen klebt – feucht und unangenehm –, und ich schlurfe trübsinnig ins Bad. Das kann nur eines heißen. Ich ziehe es herunter, und da ist er, ein münzgroßer Fleck, dunkelrot und fast kreisrund. Ich muss unwillkürlich an Cranberrysauce denken. Wahrscheinlich, überlege ich, während ich mir kühles Wasser ins Gesicht spritze und einen Augenblick zu lange mein Spiegelbild anstarre – die geschwollenen, müden Augen, die hohlen Wangen –, weil eine Zutat zum Thanksgiving-Festmahl leichter zu verdauen ist, sinnbildlich
Weitere Kostenlose Bücher