Was im Leben zählt
gingen, mit rosigen Gesichtern und immer noch durcheinanderredend – Baskenmützen! Kanapees! –, sobald ich einen Schritt zurücktrat und die Hände vom Steuer nahm, kamen sie ganz wunderbar auch ohne meine Hilfe zurecht.
Es klingt vielleicht seltsam, aber das Gleiche gilt für Darcy und meinen Vater. Nicht, dass Darcy ihn auf einmal von seiner Schuld freigesprochen hätte, nein, aber es schwingt weniger Groll mit, wenn sie von ihm spricht, weniger Wut, wenn sie mit ihm spricht, was die beiden inzwischen regelmäßig tun. Meistens geht es dabei um mich und meine mentale Verfassung. Manchmal höre ich sie flüstern, wenn sie glauben, ich wäre eingeschlafen oder vor dem Fernseher in Ohnmacht gefallen.
«Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll», sagte mein Vater eines Abends, als er dachte, ich wäre außer Hörweite. «Ich ertrage es nicht, sie in diesem Zustand zu sehen! Ich bringe diesen Burschen um!»
«Lass sie», antwortete Darcy, so wie sie es immer tut. «Sie kommt da durch. Sie ist stärker, als du glaubst.»
Ich belausche ihr Hin und Her, viel zu erschöpft, um zu ihnen rauszugehen und Hallo! Ich kann euch hören! zu sagen, aber mir ist nicht entgangen, wie viel Darcy von mir hält, wie viel Vertrauen und Glauben sie in mich setzt, viel mehr als ich vielleicht jemals in sie. Und es ist, ehrlich gesagt, schwer vorstellbar, dass ich in mich selbst je so viel Vertrauen und Glauben gesetzt hätte.
Während ich in der vergangenen Woche durchs Schulhaus gestreift bin, konnte ich nicht anders, als diesen Kids und ihrem reinen Gefühl von Unbesiegbarkeit mit Ehrfurcht zu begegnen. Ich war auch mal so. Auch Tyler und ich waren damals unzertrennlich Arm in Arm gegangen, und genau wie CJ und Johnny Hutchinson oder Gloria Rodriguez und Alexander Parsons oder all die anderen Pärchen, die sich in den Fluren und auf dem Parkplatz und in der geheimen Nische hinter der Turnhalle tummeln, kamen wir uns zu zweit strahlender, mutiger und viel menschlicher vor, als wir es allein gewesen wären. Ich nahm die Kamera vors Gesicht und hielt ihr Draufgängertum fest; nicht nur für das Jahrbuch, sondern auch für mich selbst, um mich daran zu erinnern, dass auch ich mal unbesiegbar gewesen war.
Als ich den Kunstsaal betrete, um Eli die Kamera zurückzubringen, steht er mit dem Rücken zur Tür am Fenster. Ich lege ihm die Nikon auf den Tisch. Ich will ihn nicht ansehen, will auf keinen Fall bleiben, denn obwohl seit meiner Vision bereits zwei Monate vergangen sind, obwohl ich alles Mögliche unternommen habe, um nicht mehr daran zu denken !, obwohl mein Mann mich verlassen hat, meinen Mut gebrochen und mich dann mehr in Harnisch versetzt hat, als ich es je für möglich gehalten hätte, bin ich noch immer entnervt über meine Eifersucht auf Elis Freundin.
«Hier», sage ich, ohne ihn anzusehen, obwohl er sich längst zu mir umgedreht hat. «Die bringe ich zurück. Mission erfüllt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass für euer Jahrbuch ein paar ganz gute Sachen dabei sind.»
«Und, wie wars?», fragt er, macht drei Schritte und setzt sich an einem der Zeichentische auf einen Hocker. Er zieht ihn näher heran, und die Beine schrammen quietschend über den Fliesenboden.
«Ganz nett, glaube ich.» Ich spüre, wie ich knallrot anlaufe.
«Ganz nett?» Er lacht, ungläubig, aber trotzdem freundlich. «Und das von einem ehemaligen Fotofreak? Du fandest es einfach nur ganz nett?» Er zieht einen zweiten Hocker heran, eine eindeutige Einladung.
«Okay. Es war ziemlich toll», gebe ich zu, ohne mich zu setzen. Ich frage mich, ob er weiß, dass mein Mann mich verlassen hat, bis mir einfällt, dass er es natürlich weiß – es hätte ebenso gut in der Zeitung stehen können.
«Setz dich», sagt er. «Ich bin müde. Und du siehst auch müde aus.»
Ich bin müde, und anstatt mich zu streiten, gebe ich nach.
«Was war dein Lieblingsmotiv? Damals, als du noch viel fotografiert hast?» Er verschränkt die Finger, die Hände ruhen auf dem Tisch, die Fingernägel sind gesprenkelt mit roten und blauen Farbspritzern.
«Oh Gott, daran kann ich mich wirklich nicht erinnern», sage ich, aber das ist nicht wahr. Ich kann mich sehr wohl erinnern, augenblicklich sogar. In den letzten beiden Monaten vor ihrem Tod lag meine Mutter meistens im Bett, lahmgelegt, gequält, weil sie ans Haus gefesselt war. Der Tatendrang meiner Mutter war grenzenlos, eine Leidenschaft, die sie zur Musik gezogen hatte und ihre Liebe zu allem
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