Was im Leben zählt
mal!
Plötzlich klingelt es unten an der Haustür, und das Herz pocht mir bis zum Hals. Es ist weit nach halb elf, und nächtliche Nachrichten sind nie gute Nachrichten. Immer noch im Dunkeln schlurfe ich die Treppe hinunter und wappne mich für die nächste Katastrophe: Was ist es diesmal? Hat mein Vater einen Rückfall? Will mein Ehemann mich endgültig verlassen?
Selbst durch die Socken sind die Dielenfliesen kalt, und ich ziehe das Sweatshirt enger um mich. Ich hole tief Luft, reiße die Haustür auf, in Erwartung der Flut, der Seuche, des Sensenmannes.
Doch vor meiner Haustür steht lediglich Ashley. Das Licht der Glühbirne über ihrem Kopf lässt sie ätherisch wirken, fast engelhaft, und auf ihrem erschöpften Gesicht erscheint ein liebevolles Lächeln.
«Hier.» Sie hält mir die ausgestreckte Hand hin. Sie hat eine fürchterliche Fahne. So wie ich wahrscheinlich. «Ich dachte, das könntest du vielleicht gebrauchen.»
«Was ist das?», frage ich erleichtert, überrascht, verwirrt. Ich halte das Polaroidfoto unters Licht.
«Von damals», sagt sie nur. «Ich dachte, es ist vielleicht wichtig.» Sie zögert, und mit leiser Stimme sagt sie: «Ich hatte das Gefühl, dass du es brauchst.»
Um uns herum herrscht Stille. Der Duft von verbranntem Laub und feuchter Erde weht ins Haus. Ich starre den Schnappschuss an und versuche, mich zu erinnern. Und langsam, langsam, gelingt es mir. Es handelt sich um ein Foto von Ashley, strahlend und fröhlich. Das sonnengelbe Trikot mit der Nummer 12 hängt lose an ihrem noch kindlichen Körper. Sie sitzt mit überkreuzten Beinen im Gras und strahlt zu mir hoch. Den gekrümmten Zeigefinger hält sie in die Luft gereckt. Auf den ersten Blick könnte man meinen, sie würde unseren Mannschaftskapitän segnen, aber dann fällt es mir auf einmal wieder ein. Die Geste sollte bedeuten, dass wir zischen. Wir haben uns immer die Fingerspitzen geleckt, einander in die Taille gepikt und so getan, als wären wir heiß wie Spiegeleier in der Pfanne.
«Das war an dem Tag, als dein Vater ausgeflippt ist», sagt Ashley. «Wahrscheinlich habe ich es deswegen behalten.»
«Das habe ich gemacht, oder?» Ich reiße mich von dem Bild los und sehe sie an.
Sie nickt.
«Ich kann nicht fassen, dass ich mich nicht daran erinnert habe. Und dass du es behalten hast.» Plötzlich sind wir beide völlig nüchtern. Der Alkohol kann der Tiefe unserer Gefühle nichts mehr anhaben.
«Damals war es wichtig.» Ashley schaut zu Boden.
Ich möchte sie bitten, mir das zu erklären, doch dann bemerke ich etwas anderes an ihr. Etwas sagt mir, dass dies kein reiner Höflichkeitsbesuch ist.
«Ich soll es tun, oder?», frage ich.
Sie zuckt die Achseln, ihre Augen schimmern feucht.
Ich schüttle den Kopf und halte ihr das Foto hin. «Ich mache das nicht mehr. Ich habe genug gesehen. Ich habe dir doch gesagt, dass ich aufgehört habe.»
«Bitte!», sagt sie, ihre Stimme nur noch ein heiseres Flüstern. «Bitte. Meine Mutter liegt im Sterben, und ich muss wissen, dass mit mir alles in Ordnung kommt, dass ich es überstehe.»
«Das kann ich dir doch gar nicht sagen! Ich habe keine Ahnung, was ich sehen werde … Ich sehe einfach nur!»
«Das ist mir egal», sagt sie und fängt an zu weinen. Und weil Ashley Simmons noch nie, wirklich niemals, vor mir geweint hat, noch nicht mal in der dritten Klasse, als sie vom Barren gefallen ist und sich den Arm gebrochen hat, regt sich in mir ein winziger Funke Mitgefühl.
«Oh Gott! Also gut!» Ich packe sie am Ellbogen und ziehe sie ins Haus.
Dann sitzen wir beide am Küchentisch, ich starre und starre, und dann ist es so weit. Mein Gehirn verliert die Kontrolle über meine Muskeln, und der Krampf windet sich seinen schmerzhaften Weg nach oben. Ashley hält meine Hand, während der Funke durch mein Blut rauscht, durch meine Adern, mitten durch meine Seele. Ich drücke ihre Hand, froh, dass sie an meiner Seite bleibt, bis der schwarze Mantel sich wieder hebt, bis ich wieder an die Oberfläche komme.
Im Krankenhaus riecht es nach der typischen schwachen Mischung aus Bodenreiniger und Desinfektionsmittel. Die grellen Neonlampen an der Decke beleuchten schonungslos die Augenringe und tiefen Falten, die sich in die Gesichter der Wartenden gegraben haben. Falten, die die Auseinandersetzung mit Leben und Sterben mit sich bringt. Krankenschwestern in rosa Kitteln hasten aneinander vorbei, freundlich, aber nicht wirklich herzlich, weil alle im Stress sind, und alle haben
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