Was im Leben zählt
durchdrang, was lebte. Im Sommer kümmerte sie sich um ihren Garten; im Winter packte sie sich lagenweise in lange Unterwäsche und verschwand stundenlang in den dichten Wäldern der Umgebung. Von diesen Spaziergängen kam sie mit brennenden Wangen und leuchtend roter Nase zurück, kochte für uns alle heiße Schokolade und setzte sich dann mit uns aufs Sofa, um einen Film anzusehen. Ich konnte der Kälte noch nie etwas abgewinnen und versuchte immer, mich vor diesen Spaziergängen zu drücken. Luanne begleitete sie ab und zu, doch Darcy kam, sobald sie groß genug war, begeistert mit, vor allem in jenem letzten Jahr.
Als meine Mutter dann zu krank war, um etwas anderes einzuatmen als stickige Krankenhausluft, beschloss ich, die Natur zu ihr zu bringen. Darcy und ich streiften draußen durch die Gegend, durch die Wälder, und ich knipste, knipste, knipste. Es war Sommer, und wenn Darcy neben der umgestürzten, uralten hohlen Eiche durch den Bach watete, war meine Mutter – klick – mit dabei. Oder wir stolperten über einen Flecken Wildblumen, die stur auf einem winzigen Sonnenkissen wuchsen, und klick . Ich eilte, so schnell ich konnte, in die Dunkelkammer, und dann: Hier, Mom, schau mal, was ich dir mitgebracht habe .
Das waren meine Lieblingsmomente, natürlich, meine Lieblingsmotive für alle Zeiten.
«Mein Lieblingsmotiv sind Kinder, glaube ich», sagt Eli. «Wahrscheinlich die in Kenia.»
«Du bist in Kenia gewesen?», frage ich. Ich war noch nicht mal in L.A.
«Letzten März.» Er nickt. «Eine höllische Hitze, ich habe geschwitzt wie ein Tier, aber es war trotzdem unglaublich. Allein schon ihre Dankbarkeit für das, was sie haben. Was im Grunde genommen so gut wie gar nichts ist. Aber diese Kinder! Oh Mann, die haben nie aufgehört zu lächeln. Sie haben auf den dreckigen Straßen Fußball gespielt, gesungen und geklatscht, und obwohl ich eigentlich hingefahren war, um von ein paar Dingen Abstand zu bekommen, habe ich mich zentriert gefühlt, ausgeglichen, verstehst du?»
Tue ich nicht, aber ich nicke trotzdem. «Von was wolltest du Abstand bekommen?»
«Ach, du weißt schon, Beziehungsmist. Eine üble Trennung. Der alte, langweilige Müll.» Er winkt mit seiner blau-rot gesprenkelten Hand ab. Er sieht mich an, und ich weiß, dass er es weiß, dass ich ein streunender Straßenköter bin, der sich von emotionalen Fetzen ernährt. Doch er spricht es nicht aus, und einen überschwänglichen Augenblick lang bin ich ihm sehr dankbar, weil er sich weigert, mich zu bemitleiden, weil er nicht fragt: Was ist denn passiert?, und dann Oh Gott, Tilly, ich kann nicht fassen, dass Tyler dich verlassen hat! sagt, so wie Gracie Jorgenson vor drei Tagen bei Albertson’s in der Marmeladenabteilung.
«Ich glaube, ich wollte schon immer nach Paris», höre ich mich sagen, obwohl mir das bis zu diesem Augenblick selbst nicht klar gewesen ist.
«Na, das erklärt das Prom-Night-Thema!», lacht Eli.
«Wahrscheinlich.» Ich stimme in sein Lachen ein, und bekomme einen Krampf im Bauch, wie bei einem viel zu lange nicht beanspruchten Muskel.
«Dann fahr», sagt er.
«Nein, vielleicht irgendwann mal. Aber sicher nicht jetzt.» Ich winke leichthin ab.
«Paris ist wunderbar», sagt er. «Als ich zehn war, haben meine Eltern uns mitgenommen. Mein Vater hat für die Regierung gearbeitet, und wir waren ständig unterwegs. Wir haben sechs Monate lang dort gelebt, und meine Schwestern – vier, alle älter als ich – haben mich mit in die Cafés und zum Schaufensterbummel genommen, wir sind den ganzen Tag durch die Straßen gestreift …» Er verstummt, verloren in seinen Erinnerungen. «Egal. Du solltest unbedingt hinfahren. Du würdest es lieben.»
«Wieso bist du nicht verheiratet?», frage ich plötzlich. Wie unverfroren von mir! Ich starre ihn entgeistert an und breche in nervöses, fast irres Gelächter aus. «Oh Gott! Tut mir leid! Ich glaube, ich bin im Moment nicht ganz dicht.»
Er stimmt in mein Lachen ein. «Nein, nein, eine faire Frage. Ich glaube, meine Eltern hätten auch ganz gern eine Erklärung dafür. Meine Schwestern sind alle verheiratet, auch wenn eine von ihnen gerade in Scheidung lebt.» Er windet sich ein wenig. «Ich bin bereits fünffacher Onkel, aber … ach, keine Ahnung. Ich glaube, ich bin immer unterwegs auf der Suche nach dem nächsten großen Abenteuer. Beziehungen haben mir einfach nie so richtig gepasst.»
«Deshalb Kenia», sage ich.
«Eigentlich war Kenia die Reaktion auf die
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