Was im Leben zählt
Klemmbretter mit lebenswichtigen Informationen dabei.
Ich stehe direkt neben den Automaten am Ende des Flurs, gegenüber von zwei Krankenzimmern. Die Glasfenster in den Türen machen Privatsphäre unmöglich, auch wenn an der linken Tür wenigstens ein billiger Vorhang vorgezogen wurde. Ein erschöpft wirkender Arzt geht langsam an mir vorbei, streift mich fast und wirft drei Münzen in einen der Automaten, der daraufhin ein Twix ausspuckt. Der Arzt wickelt den Schokoriegel aus und lehnt sich gegen die Wand. Sein Seufzer ist Ausdruck tiefster Erschöpfung.
Ich beobachte ihn, frage mich, ob ich seinetwegen hier bin, aber er kaut nur weiter an seinem Schokoriegel, genießt die kurze Verschnaufpause. Plötzlich tritt Ashley aus dem Zimmer ohne Vorhang. Ich weiß nicht, warum ich sie nicht schon eher gesehen habe, denn als ich jetzt durch das Fenster in den Raum schaue, sehe ich, dass die Patientin im Bett ihre Mutter ist. Schläuche führen in sämtliche Körperöffnungen, ein Monitor überwacht piepsend die Herztöne, und eine Infusion führt direkt in die Beuge ihres dünnen, altersschwachen Arms. Sie ist nur noch ein Schatten der Frau, die sie einst war.
Der Arzt hat das Twix aufgegessen, zerknüllt die Verpackung und wirft sie in den Abfalleimer. Er nickt Ashley kurz zu und huscht davon wie ein verschrecktes Kaninchen. Ashley angelt einen zerknitterten Dollarschein aus der Hosentasche und versucht, ihn in den Notenschlitz zu schieben, doch der Automat verweigert die Annahme. Sie versucht es wieder und wieder und dann noch einmal, aber die Maschine spuckt den Schein immer wieder aus.
«Verdammte Scheiße, ich will doch nur so ein saudummes Snickers!», schreit sie, die Hände zu Fäusten geballt, und boxt gegen das Glas. «Ist das auch schon zu viel verlangt? Ein Scheiß-Snickers?»
Eine Flut von Tränen ergießt sich über ihr Gesicht, es ist wie ein Dammbruch, und Ashley lehnt sich an den Automaten, als könnte ein altersschwacher, verbeulter Süßigkeitenautomat in einem Durchschnittskrankenhaus in unserer kleinen Stadt ihr tatsächlich Halt geben, der heilbringende Retter für sie sein. Ihr ganzer Körper bebt, sie schluchzt herzzerreißend, und ich verspüre nur den Wunsch, sie zu umarmen und zu trösten, weil das nun mal meine Art ist. Oder meine Art war, bis jetzt, mein Leben lang. Aber ich weiß, dass ich das nicht kann, dass meine Beine sich nicht bewegen würden, meine Stimme keinen Widerhall hätte, und ich kann nur flüstern, wieder und wieder flüstern: «Alles wird gut, Ashley. Alles wird gut.» Denn wenn ihr Schmerz im Augenblick auch unerträglich scheint, weiß ich, dass irgendwann alles wieder gut sein wird. Ich habe es auch überlebt.
Zu meiner Linken sind Schritte zu hören, und als ich mich rasch umdrehe, sehe ich meinen Vater näherkommen. Meinen Vater! Meinen Vater? Er nimmt keinerlei Notiz von Ashley, die wie ein Häuflein Elend auf dem Boden kauert, und bleibt direkt vor der Tür ihrer Mutter stehen. Seine Schultern sacken zusammen. Sogar von hinten kann ich erkennen, dass sein Körper sichtlich kleiner wird. Der Kopf sinkt auf die Brust, dann holt er tief Luft, und der Rücken streckt sich ein wenig.
«Wie geht es ihr?» Ashley hat noch immer die Augen geschlossen, aber die Frage ist eindeutig an meinen Vater gerichtet, als hätte sie ihn erwartet, als hätte sie gewusst, dass er kommen würde!
Er dreht sich zu ihr um, das Gesicht um zehn Jahre gealtert, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, seit er wieder in seinem Haus wohnt und mir versichert hat, dass er seine Sucht in die Knie gezwungen hat. Die Gesichtshaut wirkt schuppig, die Tränensäcke sind teigig und dunkel.
«Sie können noch nichts sagen», antwortet er mit brüchiger Stimme.
Ashley lässt den Kopf hängen, wie um Zuflucht zu suchen, als aus dem Zimmer ihrer Mutter plötzlich ein schriller Pfeifton ertönt. Ashley springt auf, rast in das Zimmer, und drei rosa gekleidete Krankenschwestern eilen an meinem Vater vorbei ans Bett.
Mein Vater schlägt mit der Hand gegen die Glasscheibe, ein stummes Wehklagen, und das Letzte, was ich sehe, ehe ich wieder verschwinde – mit sehr viel mehr Fragen als Antworten –, sind seine Finger, die langsam am Fenster hinuntergleiten, und die feuchte Kondensspur, die sie auf dem kalten Glas hinterlassen, ein deutlicher Abdruck seiner Hand, der langsam verblasst und dann ganz verschwindet, genau wie ich.
Mein Speichel schmeckt nach saurer Grapefruit, und mein Kiefer pocht, als hätte mir
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