Was im Leben zählt
jemand einen Kinnhaken versetzt oder als hätte ich stundenlang mit den Zähnen geknirscht. Mit flatternden Lidern versuche ich mühsam, die Augen scharf zu stellen, und erkenne schließlich über mir Ashleys ernste Miene.
«Wie lange war ich weg?», frage ich und setze mich mühsam auf, die Hände hinter mich auf das Sofa gestützt, die Ellbogen spitzwinklig wie zwei Geodreiecke.
«Eine Stunde etwa», sagt sie und hilft mir auf. «Dein Kopf ist auf den Tisch geknallt, da habe ich dich hier rübergezerrt.»
«Das war definitiv das letzte Mal. Ich gehe in Pension. Es ist zu viel. Zu heftig.» Sie nickt, verständnisvoll und ängstlich zugleich. «Aber ich habe es getan, weil ich dich verstehen kann.» Unsere Blicke treffen sich. In unseren Augen liegt zu viel Traurigkeit für so junge Menschen wie uns. «Ich meine, ich habe mich wahrscheinlich schon immer gefragt, was anders hätte sein können, wenn ich gewusst hätte, was in der Zukunft passiert. Wie oft habe ich mir das gewünscht, nachdem meine Mutter krank geworden und gestorben ist?»
«Ich weiß», sagt Ashley. «Es war damals im Zelt zu spüren.»
«Dann weißt du auch, dass ich trotzdem nichts ändern kann. Dass ich nur sehe, was geschehen wird. Was geschieht, geschieht.»
Sie nickt.
«Ich habe deine Mutter gesehen.» Ich seufze. «Sie ist sehr krank.»
«Das weiß ich bereits», sagt Ashley leise.
«Aber mein Vater war auch dabei. Was hat mein Vater da zu suchen?»
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Neunzehn
E ine Woche vergeht, und der Sommer hat sich genauso schnell wieder verabschiedet, wie er gekommen ist. Um uns herum frischen bereits die Herbstwinde auf; dieses Jahr gibt es keine Zugabe des Sommers, keine allerletzten Tage am See, keine Grillabende in den letzten Strahlen des Sonnenuntergangs.
Ich habe den Herbst immer geliebt, genauso wie die letzten Tage eines Schuljahres, aber jetzt erinnert mich die Jahreszeit nur daran, dass die Dinge sich zu schnell verändern – eben noch stehst du im Tanktop im Garten und jätest Unkraut, und schon wühlst du im Kleiderschrank nach den warmen Pullovern. Aber weil ich inzwischen zumindest versuche, mich abzulenken und, im besten Falle, mich selbst an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, entschließe ich mich, Elis Auftrag auszuführen und durch den Sucher der Kamera zu dokumentieren, was sich in der Westlake High regt und bewegt.
«Also versuchst du doch, ihm zu gefallen», sagte Susanna gestern während der ersten Kostümprobe beim Anblick der Kamera um meinen Hals.
«Sei nicht so streng mit mir!», antwortete ich, ehe ich Wally zurechtwies: Wally, schalt bitte in Sachen Jazz Hands einen Gang zurück!
«Hey, Kumpel, wir sind hier in den Fünfzigern, und du bist der Platzhirsch der Schule», erklärte Darcy vom Klavierhocker aus. «Wir sind hier nicht bei A Chorus Line .» Die Kids im Ensemble lachten, und Darcy wuchs sichtlich ein paar Zentimeter. Darcy hatte Midge Miller neulich mitgeteilt, das sie doch ganz übernehmen würde. Midge hatte lediglich ihre arthritischen Finger knacken lassen, die Achseln gezuckt und war aus dem Saal geschlurft.
«Ich tue das nicht, um ihn zu beeindrucken», sagte ich, wieder an Susanna gewandt. «Es macht mir einfach Spaß; das weißt du doch.»
«Und wer sagt, dass nicht beides stimmt?» Ihr Fuß wippte im Takt. «Außerdem war das nicht als Kritik gemeint. Du hast schon immer gern getan, was andere von dir verlangt haben.»
Wie wahr , dachte ich, während ich den Teenies dabei zusah, wie sie sich mit der Choreographie abmühten. Für die meisten war der Handjive in etwa so natürlich wie Mandarin zu sprechen. Ellbogen standen im Weg, Knie prallten gegeneinander, ein einziges Chaos aus mangelndem Rhythmusgefühl und viel zu komplizierter Choreographie.
Ich bin in den letzten fünf Tagen immer wieder durch die Flure gestreift, habe unangemeldet in den Klassenzimmern vorbeigeschaut, in der Turnhalle rumgelungert und heimliche Schnappschüsse von meinen Schülern gemacht. Das Prom-Komitee hat sich letzten Mittwoch in meinem Büro getroffen, und anstatt die ewig lange To-do-Liste selbst zu diktieren – die Einladungen müssen in Druck, die Betreuer müssen ernannt werden, die Eclairs, von denen alle begeistert waren, bei der Großbäckerei in Tarryville bestellt werden –, habe ich CJ einfach meine Liste in die Hand gedrückt und fotografiert, fotografiert, fotografiert, während der Rest sich um die Details kabbelte. Eigentlich unglaublich, dachte ich, als sie wieder
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