Was im Leben zählt
die ich von ihm geerbt habe. «Es ist nur das Übliche zwischen uns. Nichts weiter. Mach dir keine Sorgen.»
«Okay.» Ich wende mich zum Gehen. «Ach, übrigens, bist du eigentlich mit Valerie Simmons befreundet? Mit Ashleys Mom?» Ich bin mir sicher, ich wüsste, wenn sie befreundet wären, aber das Bild von ihm im Krankenhaus will mir einfach nicht aus dem Kopf. Seine Hände gegen die Glasscheibe gepresst, eine demütige Trauergeste.
«Mit wem?», fragt er, bereits wieder in die Unterlagen auf seinem Schreibtisch vertieft.
«Ach, niemand», sage ich, ehe ich mich auf den Weg zu dem Tornado in meinem Auto mache. «Vergiss es.»
[zur Inhaltsübersicht]
Zwanzig
D ie große Galapremiere von Grease ist für das jährliche Homecoming am zweiten Oktoberwochenende geplant, wenn die ganze Stadt sich sprichwörtlich in eine leicht selbstironische Schneekugel verwandelt, voll rot-weißer Luftschlangen, rot-weißer Wimpel, Wizard-Hexenhüten, Wizard-Zauberstäben und Wizard-Glitter, der noch Tage, nachdem die Westlake-Wizard-Parade durch die Stadt gezogen ist, auf sämtlichen Straßen und Bürgersteigen liegt. Ehemalige Spieler kehren zurück und winken aus Cabriolets ihrer Familie und ihren Freunden zu, die kreischen und jubeln und klatschen, als wäre der leise Hinweis darauf, dass diese ausgewachsenen Männer – ob fünfundzwanzig oder fünfunddreißig oder fünfundsechzig – den Höhepunkt ihrer Karriere bereits mit achtzehn hinter sich hatten, nicht zumindest ein winziges bisschen gruselig. Ich hatte die Sache bis jetzt, ehrlich gesagt, noch nie in diesem Licht betrachtet. Erst jetzt, wo ich keinen Ehemann mehr habe, dem ich mit verklärtem Blick zujubeln kann, während er und seine ehemaligen Klassenkameraden durch die Gegend kutschiert werden wie Könige auf einem leicht angerosteten Thron.
«Kommst du zum Homecoming?» , habe ich ihn vor drei Tagen per SMS gefragt, der festen Überzeugung, er würde niemals eine Gelegenheit verpassen, sich hochleben zu lassen – dafür lebten diese Männer schließlich. Aber sechs Stunden später kam die Antwort: «Nein, brauche noch etwas länger. Wird wahrscheinlich Ende Oktober. RDA.»
Ich habe mehr als eine halbe Stunde damit verbracht rauszukriegen, was RDA bedeuten soll – Reicht doch auch? Riesendummheit, aber? –, bis Luanne mir über die Schulter schaute und «Ruf dich an» sagte, gefolgt von einem halblauten «A-Loch!», was von mir mit einem ganz und gar nicht halblauten «Amen!» quittiert wurde. Ich widerstand dem Drang, mit einem kurzen und prägnanten «LMAA!» zu antworten («Ich glaube, das würde sogar er verstehen!», war Luannes Kommentar), und beließ es bei einem schlichten «RMA».
Drei Tage später, am Homecoming-Morgen, hat er es immer noch nicht getan – mich angerufen –, auch wenn sein Schweigen alles sagt, was es zu wissen gibt. Dass in nicht allzu ferner Zukunft der Wind von Westen kalten Regen bringen wird, dass er mit Austin sein Hab und Gut aus dem Haus schleppen wird – alles, was er angesammelt hat, während er sich mit mir sein Leben aufbaute –, aus dem Haus, aus der Stadt, aus meinem Leben. Einen flüchtigen Moment lang denke ich – leicht errötend – darüber nach, ob ich die Heilsarmee anrufen und seinen ganzen Krempel einfach abholen lassen soll – die Sweatshirts, die ich ihm geschenkt habe, den Ball, den er bei einem Mariners-Spiel ergattern konnte, die Golfschläger, die er vor zwei Jahren von mir zu Weihnachten bekommen hat.
Ha! Ja! Ha, ha! Ich fahre mit dem Rouge-Pinsel über meine rechte Wange, und ein Lächeln wärmt mir die Glieder. Wäre das ein Spaß! Das große Finale – er kommt zurück, um seine Sachen zu packen, und stellt fest, dass es nichts mehr zu packen gibt. Ich schwelge in meiner Phantasie, wohl wissend, dass ich nie den Mut hätte, es wirklich zu tun. Aber zumindest in der Vorstellung schwelgen kann ich.
Der Beginn der Homecoming-Parade ist für elf Uhr angesetzt, und Darcy und Murphy’s Law sind eingeladen worden, an der Haupttribüne zu spielen. Ich gehe nur deshalb hin. Ich habe versucht, Susanna zu überreden, mir das übliche Last-Minute-Chaos von Grease zu überlassen – irgendwer hat, Gott weiß wie, literweise Wasser über die Kulisse für Beauty School Dropout gekippt, die jetzt nur noch ein einziges Meer aus Glitter, Blau, Silber und Gold ist, und der Chor (also die Kids, die wirklich überhaupt nicht singen können, aber dringend ein Musikwahlfach belegen mussten und
Weitere Kostenlose Bücher