Was im Leben zählt
gleichmäßigen Rhythmus, dann setzt schneidend die E-Gitarre ein, und Darcy legt los. Mit ihrer wilden, fast überirdischen Bühnenpräsenz zieht sie uns in ihren Bann und hält uns gleichzeitig auf Abstand. Ich taste in der Tasche nach der Nikon, ohne die Augen von meiner Schwester zu nehmen. Klick. Darcy, die sich der Menge entgegenneigt wie ein Superstar. Klick. Darcy, die mit geschlossenen Augen völlig in einem Liedtext aufgeht. Klick. Darcy, die beinahe lächelnd den Applaus ihres Publikums genießt.
«Sie ist faszinierend», sagt Eli dicht an meinem Ohr. Er riecht nach Pfefferminzzahnpasta.
«Zu schade, dass Tyler nicht da ist», sagt jemand in mein anderes Ohr. Ich drehe mich um und entdecke Ginny Bowles. Ginny hat neben mir ihr Zeugnis entgegengenommen, und wir waren während der High School in derselben Cheerleader-Gruppe. Sie war bis weit in unsere College-Zeit hinein in Tyler verknallt, und obwohl sie inzwischen mit Chuck «The Chicken» Stanley verheiratet ist, dem die örtliche Autowerkstatt gehört, streckt sie immer noch ihren Busen raus und klimpert mit den Wimpern, sobald sie Ty irgendwo über den Weg läuft. «Ich hab gehört, er zieht weg.»
Ich zucke die Achseln und hoffe, sie hält den Mund. Halt einfach den Mund! Ich hebe die Kamera wieder ans Auge.
«Stimmt es, dass er dich verlassen hat?» Ihr Atem stinkt nach altem Orangensaft, auf ihren Schneidezähnen klebt fuchsiafarbener Lippenstift. Sie sieht aus wie ein irrer, besoffener Clown.
«Ach, halt den Mund, Ginny», sage ich, und ihre aufgemalten Augenbrauen schießen in die Höhe.
«Ich habe doch nur gefragt, Himmel noch mal!», blafft sie beleidigt.
«Du hast noch nie einfach nur gefragt, Ginny.» Ich lasse die Kamera sinken und sehe sie abschätzend an. Ich frage mich, ob ich es wagen kann, mich wenn nötig auf einen Faustkampf einzulassen.
«Jetzt schieß mal nicht auf den Boten», sagt sie, die Handflächen gespielt unschuldig nach oben gedreht.
«Was soll das denn heißen?», brülle ich los. «Du hast doch überhaupt keine Ahnung, was das bedeutet, es bedeutet nämlich nicht das, was du glaubst! Du bist nicht der Bote, Ginny! Wenn du schon deinen Lippenstift nicht ordentlich benutzen kannst, dann solltest du wenigstens deine dämlichen Sprüche richtig anwenden, verdammt noch mal!»
Trotz der lärmenden Musik haben sich die Leute zu uns umgedreht.
«He, he!», sagt Eli. «Na komm.» Er packt mich am Ellbogen und zieht mich ein paar Schritte zur Seite. «Wollen wir gehen?»
Die tobende Menge um uns herum verschwimmt in einem blitzenden Meer aus Rot und Weiß – das perfekte Abbild meiner Wut.
«Ja», sage ich. Ich spüre meine Halsschlagader pochen, so heftig geht mein Puls. «Ja. Lass uns verschwinden. Bitte bring mich möglichst weit weg von hier.»
Ich schlage vor, essen zu gehen, aber eigentlich haben wir beide keinen Hunger, und außerdem, sagt Eli, hat er eine viel bessere Idee. Er fährt etwa eine Viertelstunde lang, ohne viel zu sagen. Aus dem Autoradio seines klapprigen BMWs ertönt Countrymusik. «Man merkt, dass du nicht von hier bist», sage ich. «Hier fährt nämlich niemand einen BMW.» Lachend will er wissen, ob ein Wagen mit Baujahr 1992 wirklich zählt.
«Darcy wollte immer schon einen BMW», sage ich. «Passt irgendwie. Sie hat sich noch nie unter Wert verkauft.»
«Alles okay wegen vorhin?», will er wissen. «Ich meine, wir müssen natürlich nicht darüber sprechen.»
«Das ist nur uralter Mist. Noch aus der High School, weißt du?» Ginny Bowles. Die hatte Tyler schon immer im Visier . Ich starre zum Fenster hinaus und betrachte im Vorbeifahren die strahlenden Herbstfarben. Die Blätter haben sich in der ungewöhnlich kühlen Luft bereits verfärbt; nicht mehr lange, dann werden sie fallen und sich, wenn die Zeit reif ist, wieder erneuern.
«Ach ja. Der typische alte Mist aus der Vergangenheit. Gab es bei dir denn auch was anderes als den Mist?»
«Oh, keine Ahnung, ich hoffe doch.» Soll sie ihn doch haben. Oder ich verpetze sie so richtig schön. Ja, vielleicht brauche ich morgen spontan einen Ölwechsel, und bei der Gelegenheit werde ich The Chicken mal erzählen, dass seine Frau immer noch hinter meinem Ehemann her ist .
«Ich bewundere deine positive Einstellung.» Er nickt im Takt zur Musik und dreht das Radio einen Tick lauter. Ich lehne mich gegen die Kopfstütze und schließe die Augen, dankbar für Elis Fähigkeit, mich in Ruhe zu lassen, die Stille zu genießen, anstatt, wie
Weitere Kostenlose Bücher